bei meiner Vorstellung anfangen.
Die unerwartete Leichtigkeit des Seins
Ich hatte mich schon lange auf dieses Wochenende gefreut: Zwei Nächte Hamburg, 48 Stunden nur Liv. Alleine die Planung macht schon einen nicht unerheblichen Teil der Freude aus: Kleidung bestellen und anprobieren, Schminkkasten auffüllen und sich einmal komplett Waxen lassen. Ok letzteres ist direkt nicht soo das Vergnügen, aber das Ergebnis umso mehr. Ein großer Koffer für die Dame wird gepackt und eine kleine Tasche für den Herrn. Wobei die Dame letzten Endes auch noch 80% der Herrentasche für sich beansprucht, man kennt das ja. Freitagnachmittag dann die Ernüchterung: Der Schreibtisch quillt über vor Arbeit und das Telefon steht nicht still. Draußen ist es grau und der Wetterbericht sagt Frost und Niederschlag voraus. Die in letzter Sekunde gelieferten Winterstiefel in Größe 41 stellen sich als zu groß (!!) heraus. Am liebsten würde ich nirgendwo mehr hinfahren, sondern mich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen. Sofa und Fernseher wären vielleicht noch eine Option. Aber nein, der innere Schweinehund darf gerne mit seiner Decke auf dem Sofa sitzen bleiben - ich fahre nach Hamburg, schließlich bin ich schon spät dran! Auf der Autobahn versuche ich den letzten Tropfen Testosteron herauszuquetschen, aber am Maschener Kreuz ist Schluss: Dank Elbtunnelsperrung geht es ab hier nur noch im Schritttempo weiter. Ich verzichte auf Park&Ride und fahre direkt in die sündhaft teure Hotel-Tiefgarage. Es bleiben mir anderthalb Stunden für das komplette Makeover, um noch rechtzeitig im Restaurant mit den anderen Mädels zu sein. Das doofe Gefühl überkommt mich wieder: Ich habe keine Lust mehr, das ich schaff' ich doch eh nicht. Warum tue ich mir das eigentlich an? Was soll der Sch"¦ hier?
Ich reiße mich notdürftig zusammen. Du hast so lange darauf hingearbeitet, jetzt mach' was draus! Dann die nächsten Nackenschläge: Das Schminkzeug lag den ganzen Tag im Kofferraum und die Paintsticks sind halb gefroren. Die Maniküre meiner extra für dieses Wochenende lang gezüchteten Fingernägel dauert ewig, und die Trocknung des Nagellackes nochmal doppelt so lange. Die Eyeshadow-Base fängt an zu klumpen - so wird das nichts mit den Smokey Eyes. Meine Lieblingsstrumpfhose bekommt eine Laufmasche und der Ersatz stellt sich als deutlich figurformender heraus als beworben. Luft anhalten und durch. Der knielange Damen-Wollmantel, den mir meine Frau kurzerhand geliehen hat, stellt sich bei mir als Kurzmantel dar. Aber eigentlich ganz schick. Schnell noch die Perücke auf den Kopf und"¦ nee wieder runter und ein paar Minuten durchbürsten. Dann wieder rauf auf den Kopf, Handtasche geschnappt und auf die Uhr geschaut: Oh nein, ich habe noch 15 Minuten für einen Kilometer Fußmarsch bei Null Grad in hohen Stiefeletten. Kurzer Ganzkörper-Check im Spiegel auf der Innenseite der Hotelzimmertür. Hoppla, da ist er wieder: Der gefürchtete, tendenziell narzisstische Auto-Crush! Aber vielleicht könnt ihr da ja mitfühlen? Schnell noch ein Foto für die Nachwelt. Sonst glaubt mir das ja keiner.
Die Zimmertür fällt hinter mir ins Schloss, ich gehe Richtung Aufzug. Einige Leute kommen mir im Flur entgegen und nicken mir freundlich zu - ich nicke zurück. Der Aufzug kommt und ist voll - egal, für eine schlanke Frau ist immer Platz. Die junge Dame an der Rezeption, bei der ich vorhin eingecheckt habe, wünscht mir einen schönen Abend - ich bedanke mich und entschwinde eleganten Schrittes in die kalte Nacht.

Ich weiß nicht woran es lag, vermutlich weil ich den ganzen Abend in Eile war und mein Kopf mit anderen Dingen beschäftigt war, als Vorsicht walten zu lassen. Vielleicht lag es auch an den Winterklamotten, die ein Passing nochmal deutlich einfacher machen. Wahrscheinlich habe ich einfach mehr Gelassenheit als Frau entwickelt. Was soll schon passieren? Who cares?
Draußen ist es frostig kalt. Der Wintermantel meiner Frau hält nur bedingt warm. Aber den Oberschenkeln dienen die Silikonpolster als Wärmeakku. Im Sommer waren sie oft kein Vergnügen - jetzt sind sie ein Segen. Meine Füße haben den Widerstand gegen die hohen Stiefeletten aufgegeben und tragen mich zuverlässig durch die Nacht. Die Fußgängerampel über die vierspurige Straße vor mir droht wieder rot zu werden. Ich wage einen kleinen Spurt und schaffe es bei hinüber. Früher hätte ich bis zur nächsten Grünphase gewartet, um nicht auf der Mitte der Straße vor aller Augen auf der Nase zu landen. Ab heute ist das alles kein Thema mehr.
Im Portugiesenviertel steppt der Bär. Menschengruppen stehen auf den Bürgersteigen, rauchen oder warten auf andere Gäste. Was früher der absolute Alptraum für gewesen wäre, entpuppt sich als leichte Übung. Im Zickzack laufe ich zuerst um die Gruppen herum, dann auch bewusst mittendurch. Ich werde freundlich angeschaut und angelächelt. Kein Grinsen, keine Häme, kein Tuscheln. So muss sich ein Schornsteinfeger fühlen: Alle freuen sich, dich zu sehen. Aber warum nur? Bringen Transvestiten etwa Glück? In mir dämmert es langsam. Vielleicht sehen sie einfach nur, was ich bin: Eine hochgewachsene, blonde Frau auf dem Weg zum Restaurant. Mal ehrlich, würde ich da nicht auch versuchen ihren Blick einzufangen und mit einem Lächeln zu erwidern?
Ich komme wohlbehalten zum Restaurant, und ich bin noch nicht mal die Letzte. Beim Aperitif mit den Schwestern nehme ich mir vor, morgen etwas früher aufzustehen, um das Ganze nochmal tagsüber auszutesten. Es folgt ein herrlicher, durch und durch weiblicher Abend. Als ich nachts um drei ins Hotelbett falle und die Stiefel abstreife, bedauere ich meinen Vorsatz vom Aperitif doch etwas. Aber es hilft nichts, ich begrenze meinen Schlaf auf fünf Stunden, stehe morgens um acht unter der Dusche und anderthalb Stunden später gestylt wie am Vorabend am Frühstücksbuffet. Der Barista reicht mir meinen Kaffee mit einem Strahlen im Gesicht, ich strahle zurück - oder war es umgekehrt? Alle um mich herum sind überaus freundlich und offen zu mir. Sogar die Hotelmitarbeiterin, die die Frühstücksliste abgleicht und meinen Namen nicht sofort findet. Entspannung macht sich in mir breit. Ich hole mir noch einen Kaffee und noch einen Teller vom Buffet.
So gestärkt mache ich mich auf den Weg in die Altstadt. Es ist kalt, aber der Himmel ist wunderbar blau. Ich schlendere durch den Neuen Wall zum Jungfernstieg, lasse meine Augen über die Schaufenster gleiten und nehme mir zwei Dinge vor: Ich betrete vorbehaltlos jeden Laden, den ich interessant finde. Und ich versuche vom Jagd- in den Beerensammelmodus zu schalten: Ich suche also nichts Bestimmtes (brauchen tue ich eh nichts), aber ich schaue, was mir gefallen könnte. So lasse ich mich durch die Europapassage und die Fußgängerzonen treiben. Nach drei Stunden ist die Ausbeute überschaubar: Zwei paar Ohrringe und ein wenig Kosmetikkram. Aber darum ging es mir gar nicht, ich habe etwas viel größeres gefunden: Ein neues Gefühl der Leichtigkeit.