Heute war ich wandern. Mit einer Freundin ging es zu einer tiefen Schlucht in den Bergen. Leider sind wir auf dem Rückweg nass geworden. Die Sonne scheint eben nicht immer.
Aber eigentlich wollte ich euch ja was ganz anderes erzählen. Die Geschichte beginnt vor ein paar Tagen. Da musste ich abends noch schnell in die Stadt. Das Brot war alle. Zum Glück gab's beim Bäcker noch was für mich, obwohl der schon bald zumachen wollte.
Eigentlich hätte ich direkt danach wieder zurück laufen können und meinen Abendspaziergang damit beenden. Dann wäre die Geschichte hier zu Ende.
Sie ist aber ein bisschen länger geworden, also vielleicht schnell noch einen Kaffee holen und dann erst weiterlesen
Die sommerlich-warme Atmosphäre und die lebhafte Stimmung in der Stadt ließen mich noch verweilen und so schlenderte ich durch die Gassen und über die Plätze, an den Straßencafés mit ihrer lauten Musik vorbei. Hinsetzen wollte ich mich nicht, ich hatte ja frisches Brot und noch ein paar andere Sachen, die ich zu Hause genießen wollte.
Natürlich fiel auch der eine oder andere Blick auf schöne Sachen in den Schaufenstern. Aber zum Einkaufen war ich ja nicht hier. Und schließlich hatte ich Hunger. Dennoch, ein Laden hatte ein unwiderstehliches Angebot, so dass ich die Schwelle überschritt und mir ein Kleid aus der Nähe anschaute. Es war wunderschön, aber etwas gewagt mit dem schulterfreien Oberteil. Nur zwei schmale Trägerchen hielten es.
Aber gut, wenn ich schonmal da bin, dann kann ich es auch anprobieren. Selbst wenn es nichts für mich ist. Nur mal so, um zu sehen, wie es wirkt und wie das Tragegefühl sein würde.
Also zwei Größen mit in die Umkleide genommen, mich meiner anderen Kleidung entledigt und anprobiert. Doch was war das? Das kleinere war so eng, dass ich gar nicht reinpasste, und das größere der beiden rutschte zwar mit Mühe über meine Hüften, ließ sich aber nur mit großer Anstrengung und einigen Verrenkungen mühsam schließen. Ich kam dabei ganz schön ins schwitzen. Gefühlt hat das alles ewig gedauert, aber gut, nun hatte ich es ja geschafft.
Ich betrachtete mein Spiegelbild, und das Kleid gefiel mir. Nur war es sehr eng, und die Schultern waren etwas auffällig. Da erinnerte ich mich wieder daran, warum ich bisher keine schulterfreien Teile gekauft hatte. Aber es war ein wunderschönes Kleid in aktuellem bordeauxrot. Vielleicht doch noch eine Nummer größer probieren? Warum eigentlich nicht?
Ich versuchte, eine Verkäuferin zu finden, die mir das gewünschte bringen könnte, so dass ich nicht selbst durch den Laden laufen und dabei meine Sachen in der Kabine zurücklassen musste. Aber niemand war in der Nähe. So zog ich das Kleid in der Zwischenzeit wieder aus, immer darauf hoffend, dass irgendwann jemand zur Umkleide kommen würde und mir weiterhelfen könnte. Doch diese Hilfe schien ich plötzlich aus ganz anderen Gründen zu brauchen: Der Reißverschluss ließ sich nicht öffnen. Nach einem kleinen Stück saß er fest. Ich versuchte alles, aber es gelang mir nicht, ihn wieder in Bewegung zu setzen. Weder auf noch zu. Immer wieder ging es zwar einen Zacken weiter, aber in dem Tempo würde es bis zum nächsten Tag dauern, ihn komplett zu öffnen. Und wahrscheinlich würde ich mir vorher die Schulter auskugeln. Ich brauchte Hilfe. Aber immer noch war weit und breit niemand zu sehen, wenn ich hinter dem Vorgang hervorschaute.
Mit der Zeit kam ich ganz schön ins schwitzen, was die Sache nicht einfacher machte. Immer wieder rutschte ich ab, während ich versuchte, das Ding Zahn für Zahn aufzubekommen. Irgendwann gelang es mir tatsächlich und ich kam endlich aus dem verflixten Teil raus. Nun brauchte ich nur noch die andere Größe...
Nachdem ich gefühlt eine Ewigkeit gewartet hatte und immer noch niemand kam, zog ich mich wieder an, um das Kleid in der nächsten Größe selbst zu holen. Und natürlich kam gerade in dem. Moment jemand, als ich gerade fertig war. Kurz darauf wurde mir auch schon die richtige Größe gereicht. Diesmal ging es einfacher mit dem anziehen, und es sah auch besser aus. Nur meine Schultern waren nicht schmaler geworden. Trotzdem, irgendwie gefiel es mir sehr gut. Ich zog es wieder aus, brachte es zur Kasse und fragte, ob sie es für mich zurücklegen könnten. Das erschien mir die beste Lösung. Schließlich wollte ich doch gar nichts kaufen, mein Schrank war eh schon überfüllt. Und außerdem konnte es ja nicht schaden, noch eine Nacht darüber zu schlafen.
Beim Weiterweg fielen mir immer wieder schöne Sachen in den anderen Läden auf, aber nichts kam an dieses Kleid heran. Das machte es einfach, die Angebote zu ignorieren
Einmal fiel mein Blick auf etwas sehr merkwürdiges, ein kleines Teil, das aussah wie ein Rock, aber viel zu kurz war. Von außen konnte man es schlecht erkennen, also ging ich rein. Ich war einfach neugierig, was das denn wohl sein sollte. Und tatsächlich, es war ein ultrakurzer Minirock aus schwarz-glänzendem Kunstleder mit eingearbeiteten Shorts innendrin. Eigentlich etwas, das ich in einem normalen Kleiderladen eher nicht erwartet hätte, aber gut. Die jungen Damen hier tragen bei ihren nächtlichen Wochenendausflügen häufiger ziemlich auffällige Outfits, wie ich schon bemerkt hatte.
Ich hängte das Ding zurück auf die Kleiderstange und drehte noch eine Runde durch den Laden. Da gab es allerlei interessante Teile zu sehen. Unter anderem ein schulterfreies Kleid (schon wieder!) und noch ein weiteres sehr schönes Kleid, in dunkelbraun und bordeauxrot. Hmm, das sieht auch super aus, dachte ich, suchte mir zwei Größen aus und ging zur Umkleide. Zwei Oberteile in den selben Farben nahm ich auch noch mit. Doch im Erdgeschoss gab es gar keine Umkleide, sondern nur oben. Also Treppe rauf, und dann die gleiche Prozedur wie vorhin im anderen Laden. Und wieder war es schwierig, in die Teile reinzukommen, obwohl ich diesmal gleich die Größeren mitgenommen hatte. Keine Ahnung, für wen die vielen Sachen in XS sein sollten, wo ich hier fast schon XL brauche. Größer gab es auch gar nicht, wenn ich mich recht erinnere. Jedenfalls war es wieder so, dass ich die nächste Größe brauchte, um zu sehen, ob die besser passt. Nach den Erfahrungen im letzten Laden und weil es auch hier sehr schwer war, den Reißverschluss (diesmal seitlich unterm Arm) auf- und zuzubekommen, ging ich gleich in dem Kleid raus, das ich gerade anhatte.
Und da passierte es. Im raumhohen Riesenspiegel zwischen den Umkleidekabinen sah ich die Silhouette einer Frau vorbeihuschen, die ein ähnliches Kleid trug wie ich.
Und die sich ähnlich bewegte wie ich.
Und die in die selbe Richtung lief wie ich.
Ich schaute nochmal genauer hin.
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Ich war entzückt von der schönen Erscheinung, die unweigerlich ich selbst sein musste, schließlich bewegte sich das Spiegelbild genau wie ich. Andererseits konnte das unmöglich ich sein. So sah ich doch gar nicht aus. Also gut, der Kopf schon irgendwie, aber der Rest? War das wirklich mein Körper?
Was war hier los?
Lag es am Spiegel?
Lag es an der Beleuchtung?
War es das Kleid?
Oder stimmte vielleicht mit mir etwas nicht?
Und warum war ich auf einmal ganz alleine hier?
Wo waren all die Leute hin, die vorher laut gackernd Sachen anprobiert hatten?
Ich sah mich um, aber da war niemand.
Die Musik lief noch. Sie war gut, am liebsten hätte angefangen zu tanzen
Egal, eigentlich wollte ich ja noch eine Nummer größer anprobieren. Also trabte ich los, die Treppe runter ins Erdgeschoss, da waren auch noch ein paar Leute, ich suchte hektisch nach XL (davon gab's nur ein einziges - natürlich ganz hinten, genau wie bei L nur eins da war, zweimal gab es M, 4 mal S und 4 mal XS), dann die Treppe wieder hoch. Gerade als ich darüber nachdachte, ob Treppensteigen in diesem sehr kurzen Kleid überhaupt sinnvoll ist, kam mir ein Herr entgegen und sprach mich an. Ich verstand natürlich nichts, also wiederholte er auf Englisch, dass sie jetzt schließen würden. Ich sah wohl ziemlich verwirrt aus, weil er mir sofort nochmal erklärte, dass es jetzt 21 Uhr sei und sie schließen würden. Ja, das hatte ich doch schon verstanden. Aber er machte keine Anstalten, mich vorbei zu lassen. Ich erklärte ihm, dass meine Sachen noch oben seien und ich mich noch umziehen müsse, da lachte er und verstand, dass das Kleid, das ich anhatte, gar nicht meins war.
Also zog ich mich rasch um und machte mich auf den Heimweg. Da gab es eben ein spätes Abendessen heute.
Aber das Kleid ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich schickte das Bild ein paar Freundinnen und fragte sie nach ihrer Meinung. Die war ganz klar: Kaufen, und zwar in bordeaux und nicht in braun!
Ich zögerte noch, schließlich hatte ich schon so viele Kleider, die ich nur selten tragen konnte. Das hier wäre wohl auch eher für die Tanzfläche und weniger für den Gemüsemarkt. Wann und wie oft würde ich es wohl tragen? Aber es war faszinierend, wie es meine Erscheinung veränderte. In einer Art und Weise, wie ich es mir immer gewünscht, aber nie für möglich gehalten habe. Zumindest nicht ohne großen Aufwand mit Polstern und sonst noch was. Aber so? Einfach ein Kleid anziehen und fertig? Schon sah ich so aus wie - ja, wie was eigentlich? - Wie ich? Vielleicht sollte ich einfach mal damit klarkommen, dass ich das bin, trotz all der ungläubigen Verwunderung, die der Anblick bei mir auslöst? Oder vielleicht war es auch gar nicht so toll und ich bildete mir das alles nur ein? Wie peinlich wäre das denn?
Ach egal, solange es mir gefällt?!
Sagte ich das nicht immer zu den Anderen, dass es das Wichtigste sei, dass man sich selbst wohlfühlt? Aber fühlte ich mich denn überhaupt wohl? Oder war es nur die Begeisterung über die äußere Wirkung?
Es half alles nichts, ich musste da morgen nochmal hin.
Da stand ich also tags darauf wieder in der Umkleide, diesmal in dem bordeauxroten Kleid. Und es sah gut aus. Und es fühlte sich wundervoll an. Ein unbeschreibliches Gefühl, ich war ganz selig und begann kurz im Takt der Musik zu tanzen. Bis ich mir komisch vorkam. Das macht man doch nicht. Man fängt in der Umkleide nicht an zu tanzen. Du bist wohl übergeschnappt! Und überhaupt, war es nicht arg kurz?
Nein, was soll das denn jetzt? Genau so wollte ich es doch, genau so musste es sein! Warum soll ich mich darum kümmern, was man angeblich in der Umkleide macht und wann ein Kleid lang genug sein soll?
Ich will jetzt einfach mal so sein, wie ich mag. Ich tu ja niemand was. Und ja, ich fühle mich wohl. So gut, viel besser geht's kaum!
Am liebsten hätte ich das Kleid gleich anbehalten, aber es musste ja noch bezahlt werden. Also schweren Herzens ausziehen, wieder in die anderen Klamotten rein und zur Kasse. Irgendwie war schon wieder kurz vor Ladenschluss. Keine Ahnung, wie das immer passiert. Vielleicht gibt es da ein Zeitloch in der Umkleide?
Zu meinem Schreck bemerkte ich beim Warten an der Kasse einen kleinen Riss neben dem Reißverschluss. Ach wie dumm, da hatte ich mich so in dieses Kleid verliebt, und nun war es schon kaputt, bevor ich es das erste Mal tragen konnte?
Das konnte doch nicht wahr sein!
Als ich drankam, machte ich auf das Problem aufmerksam und fragte ohne große Hoffnung, ob sie noch ein anderes in der selben Größe hätten (dabei wusste ich doch selbst, dass es das einzige war). Doch die Reaktion fiel unerwartet positiv aus, man zeigte Verständnis und bat um ein paar Minuten Geduld, um im Lager nachzusehen. Und, oh Wunder, da gab es tatsächlich noch eines!
Ohne es anzuprobieren nahm ich es mit und hoffte, dass es keine großen Unterschiede bei der Herstellung gab. Zu Hause hab ich es natürlich sofort anprobiert, und ja, es passte perfekt
Obwohl, vielleicht war es doch eine winzige Kleinigkeit kürzer. Aber vielleicht täuschte ich mich da. Es war ja von vorneherein klar, dass man in diesem Kleid nicht
vor jemandem die Treppe hochgehen kann. Sitzen ist auch schwierig. Eigentlich kann man damit nur gerade gehen und stehen
Bücken geht gar nicht
Warum kauft man dann so ein Kleid? -
Weil es Spaß macht!
Und überhaupt: Auf der Tanzfläche sitzt man ja nicht, und das mit den Treppen... mal sehen, vielleicht öfter den Aufzug nehmen?
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Danke fürs Lesen
LGL
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Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Blaise Pascal