(ISBN 978-3-462-31218-8, https://www.kiwi-verlag.de/buch/einfach ... 3462312188 )
Etliche sehr gute Texte; ich habe noch nicht alle durch. Interessant aber zum Beispiel diese Passage:
(Cornelia Kost: "Trans*: Fakten und Zahlen")Nach der Gallup-Studie liegt der Anteil der Jungerwachsenen in der Generation Z, die sich in den USA als transgender bezeichnen, bei 2,1 % (Jones, 2022). Eine der wenigen gesicherten Zahlen zum Thema Geschlechterverständnis unter Jugendlichen in Deutschland findet sich in den 2021 in Hamburg und Bremen durchgeführten Schüler*innen- und Lehrkräftebefragungen zum Umgang mit Suchtmitteln (SCHULBUS). Insgesamt 130 der insgesamt mehr als 5300 befragten Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren gaben als Geschlecht »divers« an. Das entspricht einem Anteil von 2,4 % der bereinigten Gesamtstichprobe (Baumgärtner, 2023). Auf Deutschland hochgerechnet, ergibt das fast 100000 Jugendliche, die sich nicht im binären Geschlechtersystem verorten (Destatis, Lebendgeborene, Gestorbene, Geburten-/Sterbeüberschuss (ab 1950), 2023). Der »IPSOS LGBT+ Pride 2021 Global Survey«, der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorgelegt wurde, geht davon aus, dass »LGBTI+ Deutsche 14 % der Bevölkerung ausmachen«. Es »identifizieren sich schätzungsweise 3 % der Deutschen selbst als nicht-cisgender« (OECD, 2023).
Also nochmal:
14% Menschen in Deutschland irgendwie LGBTQI+
3% in Deutschland nicht cis-gender
2,4% der Altersgruppe 13-18 "divers" (also nichtbinär)
Hui!
Selbst wenn sich die 2,4% mit dem Alter teilweise doch binär verteilen, liege ich mit den 1-3% trans und_oder nichtbinär vermutlich richtiger als die üblichen 0,6%. Und damit auch mit den Vergleichen: 1,5% Menschen in D haben einen Doktortitel. Ebenso viele rote Haare oder grüne Augen. Wir sind nicht so wenige.
Also: Das ganze Buch lohnt sich. Epub zur Ansicht bei mir.
Und diesen Text hier möchte ich am liebsten plakatieren oder sonstwie möglichst vielen Menschen geben, um klar zu machen, wo das eigentliche Problem nichtbinärer Menschen liegt:
(Irina Nekrasov/a: "Nichtbinär")Morgens aufwachen und durch die Wohnung laufen ins Bad. An sich runtergucken und sich wohlfühlen, an sich runtergucken und sich einen anderen Körper wünschen. Die Haare kämmen und Entscheidungen treffen. Zu den Kisten voll mit Kleidung treten und Entscheidungen treffen. ... Sekunde für Sekunde für Sekunde Entscheidungen treffen. Und jede der Entscheidungen ändert nichts daran, wer man ist.
Nichtbinär sein ist ein Outfit. Nichtbinär sein ist ein Trend. Nichtbinär sein ist kokett. Nichtbinär sein ist Aufmerksamkeit heischen. Nichtbinär sein heißt, eine selbsthassende Frau sein. Nichtbinär sein heißt, sich der Verantwortung von cis Männlichkeit zu entziehen. Nichtbinär sein heißt, ein Mädchen in Jungsklamotten sein. Nichtbinär sein heißt, ein Junge mit Nagellack sein.
Während man vom Bett zum Bad zur Klamottenkiste zum Spiegel läuft, trifft man Entscheidungen. Und im Kopf hat man Stimmen. Manche schützen einen, helfen einzuschätzen: Wo gehe ich nachher hin? Ist es gefährlich, dort so zu performen, dass jemand erahnen könnte, dass ich nichtbinär bin?
Gehe ich in einen Raum, in dem ich durchatmen kann? Oder ist es einer dieser Räume, der so binär ist, dass die Möglichkeit meiner Existenz gar nicht in Erwägung gezogen wird?
Nichtbinarität ist eine Geschlechtsidentität. Sie ist aber auch ein Sammelbegriff. Von sich erzählen und sagen, ich bin nichtbinär, sagt erst mal gar nichts über die Komplexität und Realität der Person aus, die es ausspricht. Wie auch? Es gibt Menschen, die sagen, ich existiere außerhalb von den Geschlechterkategorien. Es gibt Menschen, die sagen, ich bewege mich auf dem Spektrum zwischen der Binarität von Mann und Frau. Es gibt Menschen, die sagen, ich bin beides. Ganz oft heißt es deswegen jetzt in feministischen Texten und Demoreden: »An alle Frauen, Männer, die, die nichts davon sind, die beides sind oder die dazwischen.«
Das Uneindeutige wird eindeutig gemacht – die Trinität der Möglichkeiten des Nichtbinärseins. Nichtbinarität wird zur eingrenzbaren Kategorie. Natürlich gibt es jede dieser Möglichkeiten, trotzdem lässt sich das Erleben von Nichtbinarität nicht darauf reduzieren – und erst recht nicht behaupten, dass dies eine ausreichende Definition von nichtbinär sei.
Männlich, weiblich, divers – der Kampf um die dritte Geschlechtsoption wurde von inter*Personen gekämpft. Bis zum Bundesverfassungsgericht wurde sie eingeklagt, und mit einer bundesweiten Kampagnenarbeit zur dritten Option wurde Druck gemacht. Divers wird aber nun für manche ein Synonym für nichtbinäre Menschen. Du bist nicht Mann, nicht Frau, ah, dann bist du divers oder, wie es auf denglisch seit der Ausstrahlung der lesbischen Datingshow »Princess Charming« oft heißt: non-binär.
Die heilige Trinität der Möglichkeiten – auch wenn der Aussage »Es gibt mehr als zwei Geschlechter« mit viel Wut und Hass und Gewalt begegnet wird, hat sie noch lange nicht die Schlagkraft, die Nichtbinarität innewohnt. Nichtbinarität wird oft als »dritte Option« gedacht, obwohl hier Diskurse und Kämpfe von inter*Aktivist*innen vermischt und unsichtbar gemacht werden. Alles für den Wunsch nach Eindeutigkeit. Drei Möglichkeiten sind akzeptabler als unendlich viele Möglichkeiten.
Denn: Hinter dem Begriff nichtbinär steht erst mal kein Bild. Kein Körperteil. Keine Farbe. Keine Stimmhöhe oder Tiefe. Kein Hobby. Kein Berufswunsch. Hinter diesem Begriff steht eine Unendlichkeit an Möglichkeiten, eine enorme Komplexität. Es gibt kein nichtbinäres Aussehen und kein nichtbinäres Performen. Es gibt nur einen Menschen, der dich anschaut und sagt, hör zu, ich bin nichtbinär. Und einen anderen Menschen, der das hört und sagt, okay, und denkt, ich weiß nicht, was das für dich bedeutet, und der hoffentlich fragt, brauchst du etwas von mir?“
Transexkludierende radikale Feminist*innen sagen immer wieder: Es gibt trans*Personen, aber eben nicht so viele. Und wer trans* ist, wird es beweisen können. Zwischen Bett und Bad und Klamottenkiste und Spiegel ist immer auch die Stimme, die ruft:
BEWEIS ES MIR!
Und da steht man also vor der Klamottenkiste und denkt: Wenn ich mich nur genug anstrenge, nur hart genug kämpfe, das Richtige trage und das Richtige fühle, was ich schon immer gefühlt hab, woran ich nie gezweifelt hab. Dann wird diese Stimme am Ende des langen Korridors in einem dunkelbraunen Ledersessel sitzen, die Beine übergeschlagen, und rufen:
DU HAST ES MIR BEWIESEN!
Und man wird durchatmen und wissen: Jetzt habe ich den Test bestanden. Jetzt darf ich sein und darf ich leben. Aber liest man die Texte der durchschnittlichen menschenrechtsverachtenden, transexkludierenden, radikalen Feminist*innen, weiß man, am Ende des Korridors sitzen sie da, die Beine übergeschlagen, in diesem dunkelbraunen Ledersessel und rufen:
DU LÜGST.
Wer den Korridor entlanggeht, steht unter Beweispflicht. Es wird behauptet, wer die Hürden überwindet, kann seine eigene Existenz beweisen. Aber eigentlich ist doch die eigene Existenz schon durch sich selbst bewiesen. Der Korridor ist voll mit Erwartungen und Projektionen der cis heteronormativen Gesellschaft. Sie gibt vor, was man sagen und fühlen und denken und sein muss, um genehmigt zu werden.
Aber was ist Nichtbinarität in diesem Korridor? Wie kann man seine Nichtbinarität beweisen? Haare kurz schneiden? Oder Haare lang wachsen lassen?
Nur noch dunkle Farben tragen? Nur noch helle Farben? Nie wieder schminken? Immer schminken? Nie wieder Kleider tragen? Nur noch Kleider tragen? Neue Pronomen? Keine Pronomen? Neopronomen? Keine Pronomen?
Muss eine nichtbinäre Person immer androgyn aussehen? Haben die Gatekeeper*innen am Ende des Korridors überhaupt schon diesen Test erfunden? Oder setzt sich jeden Morgen auf dem Weg vom Bett zum Bad zur Klamottenkiste zum Spiegel jeder nichtbinäre Mensch bereits selbst unter Druck? Und das noch bevor transexkludierende radikale Feminist*innen sich selber überhaupt überlegt haben, welche die Bedingungen sind, die erfüllt sein müssen für das kurze anerkennende Nicken am Ende des Korridors.
Muss für dieses kurze Nicken ein dicker Körper Fett verlieren? Muss auf eine Hormontherapie verzichtet werden? Was muss man aus der Klamottenkiste ziehen für dieses eine kurze Nicken, für die Bestätigung, dass man selber existiert? Dabei weiß man selbst es doch ganz genau. Sonst wäre man doch nicht da.
Nichtbinarität lässt sich nicht eingrenzen. Nicht definieren. Nicht an Körpern ablesen. Nicht in Kleidung einschreiben. Künstler*in, Lyriker*in, Performer*in Alok Vaid-Menon schreibt: »I don’t have to be a woman or a man to be coherent.« They betont immer wieder, wie sehr die bloße Existenz von nichtbinären Menschen einen Angriff auf die Grundannahmen des weißen, cis heteronormativen, kapitalistischen Systems darstellt. Die eigene Existenz zeigt auf, dass es mehr gibt, als sich in Sprache und Normen einsperren lässt. Und die bloße Möglichkeit dessen, dass es eine Alternative gibt, hat eine Sprengkraft, die jede*r, der*die die Zweigeschlechterordnung mit aller Kraft verteidigt, spürt. Es gibt die Möglichkeit einer Welt, die freier ist. Daran erinnern Queers, ob sie es wollen oder nicht. Ihre bloße Existenz ist ein Angriff. Ob sie wollen oder nicht.
"Non-binär sind wir alle, kein Mensch, den ich kenne (und erst recht keine Frau!), ordnet sich irgendwelchen patriarchalen Genderrollen unter!“
Nichtbinarität als politisches Statement. Denkt man dieses Klo-Statement zu Ende, fragt man sich, wieso sind die Toiletten an diesem Institut binär geschlechtergetrennt. Warum hat die Person, die diesen Satz geschrieben hat, nicht längst die alten Symbole überschmiert und die Standesämter mit Steinen beworfen, in denen die Datenbanken zu den Personenstandsregistern gespeichert sind? Und wieso rutschen wir nicht alle längst den funkelnden, befreiten und wunderschönen Regenbogen herunter, in diese wunderbare Welt, die frei ist von patriarchalen Genderrollen?
Nichtbinär zu sein ist keine Entscheidung. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten und Realitäten des Nichtbinärseins. Jede Person, die nichtbinär ist, ist es auf ihre eigene einfache oder komplexe Art und Weise und entscheidet selbst, wie sie performt, was sie preisgibt, was sie erklärt, was sie akzeptiert, um zu überleben in einer Welt, in der die eigene Existenz als nicht existent definiert wurde. Nur nichtbinär zu sein ist keine Entscheidung. Kein Statement. Und gleichzeitig ist es ein Angriff, eine Provokation, eine immer wieder aufleuchtende Erinnerung daran, dass die Geschichten, die wir über uns selbst und die Welt, in der wir leben, erzählen, komplexer sind, als die Sprache und die Vorstellungskraft eines Unterdrückungssystems uns weismachen wollen.