Ostwind
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Crossdressing und selbst Erlebtes... Erdachtes
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Anne-Mette
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Ostwind

Post 1 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Moin,

Ostwind - das ist ein "Arbeitstitel" für eine längere Geschichte.
Erst einmal ein langsamer Aufbau.



„Du musst aufstehen!“
So spät ist es doch noch gar nicht?
Der Ostwind ist zu hören – und das Geräusch der unermüdlichen Wellen dringt bis an den Schlafplatz. Es ist noch lange nicht Ebbe – Zeit genug, sich ein wenig auszuruhen. Hedwig fühlt sich müde und schwer. Es ist so heiß, dass sie unbekleidet schläft. Sie hat geschwitzt in der Nacht, hat schlecht geschlafen. Obwohl sie in der letzten Zeit ganz wenig gegessen hat, sieht sie einen Bauch, wenn sie an sich herunterschaut.
Ihr Blick fällt auch auf ihre Brüste. Sie war froh, dass sie immer sehr klein waren. Nun sind sie ordentlich gewachsen. Das gefällt mir nicht.
„Ich fühle mich wie eine Kuh sich wohl fühlen wird“, denkt sie und vor ihr tauchen Bilder auf von schwankenden Eutern. Nein, sie möchte so sein, wie sie vor einiger Zeit gewesen ist: knabenhaft – und immer auf dem Wasser oder im Watt unterwegs.
„Heute musst Du Frühstück für die Sommergäste richten“, ruft ihr die Mutter zu, ich muss noch ins Dorf und schauen, ob es heute Kaffee gibt.
„Sommergäste“, Hedwig schnauft verächtlich, aber sie und ihre Mutter können jeden Groschen gebrauchen.
Sie kommt nicht so recht aus dem Bett. Im Unterleib spürt sie ein Ziehen.
Dabei: schon länger hat sie „die Tage über die Frauen nicht sprechen“ nicht gehabt; aber die kamen eh recht unregelmäßig.
Endlich hat sie es geschafft. Sie schlüpft in ihre Latzhose, die nicht nur praktisch ist, weil sie große Taschen für alle möglichen Utensilien und Werkzeuge hat, sondern weil sie den Bauch so schön hält.
Erst am Scheuern der Naht bemerkt sie, dass sie keine Unterhose angezogen hat.
Mist – die hat sie ausgewaschen und abends auf die Leine gehängt. Ob sie schon trocken ist?
Sie geht hinunter und holt sich die Unterhose, die einsam auf der Leine hängt. „Trocken ist anders“, denkt sie, „aber der Rest trocknet am Körper“.
Sie geht wieder in die Schlafkammer, die sie mit ihrer Mutter teilt; denn auf dem Hofplatz kann sie sich nicht anziehen. Die Sommergäste könnten jeden Moment kommen.
Raus aus der Hose.
Die Tür geht auf; die Sommergäste werden doch wohl nicht…
„Kind, bist Du guter Hoffnung?“
Ihre Mutter ist noch einmal zurückgekommen und guckt sie mit weit aufgerissenen Augen von unten bis oben an.
„Guter Hoffnung? Was soll das sein?“
„Du kriegst ein Kind, jedenfalls siehst Du so aus!“
Hedwig schluchzt, „ein Kind? Wieso?“
„Das möchte ich auch gerne wissen“, antwortet ihre Mutter, „ein Kind hat uns gerade noch gefehlt“.
Es ist nicht nötig, aber sie zählt noch einmal auf, wie schwierig die Zeiten sind. Der Krieg liegt erst wenige Jahre zurück. Ihr Mann ist „für den Führer und für das Vaterland gefallen“, es gibt zwar viel Arbeit auf der Insel, aber kaum Bezahlung. Hedwig kennt die Klagelieder ihrer Mutter.
Unten ruft jemand. Die Mutter geht nachschauen. Sie vermutet, dass es die Gäste sind, die etwas wollen oder brauchen.
Immer freundlich sein!
Sie kommt zurück.
„Sieh zu“, sagt sie zu Hedwig, „es ist Willi, der will raus zum Makrelenangeln und nimmt Dich mit. Das Wasser läuft ab, ihr müsst euch beeilen, wenn ihr noch los wollt!“
„Aber das Frühstück für die Sommergäste…“.
„Das mache ich. Wenn Du eine große Ladung Makrelen heimbringst, das würde uns noch mehr helfen!“
Hedwig will eigentlich lieber ins Watt und nach den Reusen und Ofenrohren schauen oder zum Totten hinausrudern.
Mutter meint es ernst: „Kind, nun lauf!“
Hedwig rennt die kurze Strecke bis zum Hafen hinunter.
„… und über die andere Sache reden wir noch!“
Hedwig hat die letzten Worte ihrer Mutter noch im Ohr, als sie bei Willi und seiner „Miesmuschel II“ an Bord klettert“.
Willi ist dabei, mit einem Gasbrenner den Motor vorzuwärmen. „Das ist ein Glühkopfmotor“, hat er ihr mal erklärt. Ihr glüht auch der Kopf – vom Laufen und von den Worten ihrer Mutter.
„Guter Hoffnung – so ein Quatsch, was kann gut daran sein, ein Kind zu bekommen?“
Willi schraubt am Gasbrenner und bringt die Flamme zum Erlöschen.
Er stellt sich an das große Schwungrad und pendelt. Er scheint einen richtigen und wichtigen Punkt zu suchen. Er sieht ganz andächtig aus.
Schließlich gibt er dem Rad, was dem Namen Ehre macht: SCHWUNG.
PÖTT PÖTT PÖTT – wie von Zauberhand nimmt der Motor seine Arbeit auf. Willis Augen leuchten.
„Leinen los“, ruft er.
Schnaufend kommt sein Sohn angelaufen und springt gerade noch rechtzeitig an Bord. Hedwig bewundert den kühnen Sprung. Nun sind sie zu dritt. Wenn sie tatsächlich einen Makrelenschwarm entdecken sollten, würden sie bestimmt einen guten Fang machen.
Sie tuckern die schmale Fahrrinne entlang. Sie halten sich dich an die Pricken. Willi steht konzentriert an der Pinne. Jetzt nur nicht auflaufen; dann müssten sie bis zur nächsten Flut warten.
Sie haben Glück. Die flachen Priele haben sie bald überwunden; nun wird das Wasser tiefer.
Die erste Tonne ist in Sicht. Nun haben sie es geschafft. Der Strom zieht sie hinaus. Der Wind steht gegenan und wirft eine unangenehme, kabbelige See auf.
Sie werden nass. Bei dieser Hitze können sie keine Teerjacken anziehen. Die mag Hedwig sowieso nicht. Nach manchen Wellen schüttelt sich das Boot, aber der Motor tuckert zuverlässig.
„Wenn der erst einmal läuft…“, hat Willi mal gesagt, aber den Rest des Satzes in Tabaksqualm dahinfliegen lassen. Hedwig glaubt ihm trotzdem.
Ja, so lange der Motor läuft, fühlt auch sie sich sicher, erstmal. Mit jedem kräftigen PÖTT des Motors entfernt sie sich wieder ein Stück von ihrer Mutter, erstmal.
„Das Leben geht weiter“, denkt sie, „so lange der Motor läuft!“ Sie muss schmunzeln über diese Gedanken und verzieht ihr Gesicht zu einem Lächeln, aus dem sogar ein Lachen wird.
„Lach’s mi an oder ut?“ fragt Willi.
„Na – an, natürlich!“
Sie lenkt sich ab und guckt durch das große Fernglas.
Sie umrunden die nördlichste Spitze und nehmen Kurs West.
Der kräftige Strom zieht sie hinaus.
Sie sind auf der Nordsee und nicht mehr im Wattenmeer.
„Nordsee ist Mordsee“, hat sie mal gehört, aber heute zeigt sich das Meer gemütlich wie ein Ententeich.
Immer wieder freut sie sich, den Leuchtturm zu sehen.
Sie sieht auch die Bunker und denkt an die Nächte mit Alarm, denkt an gefallene Bomben, an Tiefflieger, die Jagt auf Menschen im Watt gemacht haben – und an ihren Vater, der wäre bestimmt gerne dabei heute!
„Da ist was!“
Hedwig ist immer wieder aufgeregt, ein Jagdfieber befällt sie regelrecht, wenn sie spürt, dass ein Fang möglich ist. Durch das Fernglas hat sie Möwen gesehen, die immer wieder auf das Wasser stoßen.
„Wir haben Glück“, meint Willi, „wir müssen uns an das geräumte Fahrwasser halten – eine bessere Stelle hätten sich die Fische nicht aussuchen können!“
„Erst mal sehen, ob da tatsächlich Makrelen sind“. Willis Sohn heißt nicht nur Ernst, sondern er antwortet auch ernst und wohl überlegt: „kann auch sein, dass kein Makrelenschwarm den Heringen gefolgt ist“.
„Das habe ich in den vielen Jahren fast noch nie erlebt“, gibt Willi zur Antwort, schaut aber etwwas nachdenklicher. Seine Begeisterung scheint verflogen.
„Erst mol hebben“, murmelt er in seinen Bart.
Ernst holt die Handangeln und spült die Fischkisten noch einmal durch.
Willi drosselt den Motor und kuppelt aus. Sie lassen sich treiben und werden vom Strom weiter auf die Nordsee hinausgezogen. Immer wieder achtet er darauf, dass sie das Fahrwasser nicht verlassen.
Auf Salzsand tobt die Brandung.
„Da möchte ich jetzt nicht sein“, denkt Hedwig.
Sie werfen die Angeln aus.
Es sind einfache Handangeln mit fünf Haken. Die Angelschnüre sind auf einem Holzstück aufgewickelt.
Fünf Haken = fünf Makrelen; so ist die Gleichung, die sie in der nächsten Stunde immer wieder aufstellen. Selten, dass nicht alle Haken besetzt sind.
Die Fischkisten füllen sich.
Hedwig rechnet.
Sie rechnet, dass Willi ihr sicherlich einen Anteil geben wird.
Vielleicht wird der Anteil so groß, dass sie sich etwas kaufen kann – oder für ihre Mutter.
Als die Fischkisten voll sind, brechen sie ab.
Dabei hätten sie weitermachen können, um die Fangmenge zu verdoppeln.
„Nun kommt erst die richtige Arbeit!“
Willi gibt jedem ein Messer und sie machen sich an das Ausnehmen der Fische.
Nebenher steuert er. Sie haben gewendet und tuckern langsam mit dem auflaufenden Wasser zurück.
Nachmittags erreichen sie den Hafen.
Sie werden schon erwartet.
Viele Dorfbewohner sind erschienen; die meisten können nichts bezahlen.
Emma bringt immerhin etwas aus ihrem Gemüsegarten mit.
„Ich mach das mal wieder gut!“ ist oft zu hören an dem Tag.
Es hat sich wohl rumgesprochen, dass sie einen guten Fang gemacht haben; es kommt sogar einer aus Westerland und holt für sein Lokal 600 Stück ab. Vorher prüft er die Ware, drückt ins Fleisch, besieht sich die Kiemen.
Ein paar Scheine wechseln den Besitzer. Hedwig kann nicht sehen, ob es viel Geld ist.
Sie darf sich zwei Eimer voller Makrelen mitnehmen. Sie ist fast ein wenig enttäuscht.
Sie klettert an Land.
Willi ruft sie noch einmal zurück: „hier, mien Deern, soveel gift datt aber nich immer!“
Er drückt ihr zehn Mark in die Hand. Fast hätte sie einen Luftsprung gemacht.
Fast tänzelnd tritt sie den Heimweg an, aber je näher sie dem Haus kommt, desto schwerer werden ihre Schritte. Sie muss an das bevorstehende Gespräch mit ihrer Mutter denken.
Ulrike-Marisa
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Re: Ostwind

Post 2 im Thema

Beitrag von Ulrike-Marisa »

Moin Anne-Mette,

...hast du schon mal dran gedacht, ein richtiges Buch zu schreiben?
Seefahrtgeschichten lese ich gerne - mach bitte weiter... (smili)

LG, Ulrike-Marisa

...weit ist die See...
Simone 65
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Re: Ostwind

Post 3 im Thema

Beitrag von Simone 65 »

Danke Anne-Mette.
Ich weiss ,ich bin ein Mensch und nur Das zählt.
Ich bin nur ein kleines Licht , aber ich leuchte .
Alle Menschen sollen mich sehen .
Simone 65
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Re: Ostwind

Post 4 im Thema

Beitrag von Simone 65 »

Nochmals Danke. Anne-Mette. Ich bin selber früher zur See gefahren, 4 bis 5 Monate am Stück. Atlantik, Hochseefischerei. Ich habe in der Zeit viel von der Welt gesehen. Ich bin an der Ostsee aufgewachsen, das Mövengeschrei bei aufwachen und Abends ins Bett. Es war immer da. Der Geruch des Meeres ist unverwechselbar. Ich wohne jetzt in BW, da gibt es keine Möven. Auf See wußten wir, wenn die Möven kommen, ist das Land nicht weit. Ich bin natürlich viel später zur See gefahren, als in deiner Geschichte. Aber die Erinnerung an den Norden, an die Seefahrt waren wieder da. BW ist schön, aber nicht das selbe. Liebe Grüße Simone
Ich weiss ,ich bin ein Mensch und nur Das zählt.
Ich bin nur ein kleines Licht , aber ich leuchte .
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Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 5 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Guten Abend,

hier gibt es jedenfalls ein paar Makrelen für die Menschen aus dem Binnenland )))(:
viele-makrelen.jpg

Möwengeschrei muss ich erst suchen (smili)

Gruß
Anne-Mette
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Saskia.shewulf
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Re: Ostwind

Post 6 im Thema

Beitrag von Saskia.shewulf »

Hallo Anne-Mette,

danke mir gefällt der Anfang dieser Geschichte auch sehr gut und schließe mich Ulrike-Marisa an.Möwengeschrei hab ich auf dem Handy, :D

Damit trikse ich mich wenn ich den Mal bei euch an der Küste bin immer selbst mit aus weil ich dann ständig denke es ist ein Anruf :lol:



LG Saskia (flo) (flo) (flo)
Wer keinen Mut zum träumen hat
-hat keine Kraft zum Kämpfen
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 7 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Die Mutter freut sich über die Makrelen und setzt gleich die Bratpfanne in Gang. Die Sommergäste sind sicherlich hungrig. Wenn der Bratenduft durch das Haus streift und Signal gibt „leckeres Essen in Arbeit“, werden sie nicht lange auf sich warten lassen.
Richtig geraten – es dauert nur einen kurzen Augenblick und die Gäste erscheinen. Hedwigs Mutter hat noch „Kartoffeln von gestern“ und etwas Speck zum Fisch. Dazu gibt es eingemachte Rote Bete.
Hedwig will ordentlich zulangen; schließlich hat sie wesentlich zu dem Abendessen beigetragen mit ihrem Fang – und sie ist hungrig nach der ganzen Arbeit, aber ihre Mutter schaut sie böse an, was tunlichst als „erst die Gäste“ zu interpretieren und zu berücksichtigen ist.
Die Gäste sind gute Esser. Sie spülen nach mit Bier, das sie mitgebracht haben.
„Schreiben sie’s auf die Rechnung“. Schon verschwinden die Gäste wieder.
Hedwig und ihre Mutter stellen die Pfanne direkt auf den Tisch und bedienen sich.
Als auch sie satt sind, gibt Hedwig ihrer Mutter das Geld, behält aber zwei Mark für sich.
Die Mutter scheint sich zu freuen, sagt aber sofort: „reden müssen wir trotzdem!“
Hedwig hat Magengrummeln – und das nicht vom Essen.
Sie geht hinaus an die Pumpe und spült die Teller ab.
Die Gäste haben sich bestimmt auf den Weg zur Hafenkneipe gemacht; sie und ihre Mutter sind ein paar Stunden für sich.
Da will sie sich gleich waschen und pumpt Wasser in die Wasch-Schüssel aus Porzellan.
Sie hat Mühe, die Fisch-Schuppen zu entfernen; aber ihre Mutter streut etwas Persil ins Wasser und gibt ihr eine grobe Bürste.
Sie muss heftig schrubben, sodass die Haut ganz rot wird.
Mit frischem Wasser spült sie nach.
Zuletzt wäscht sie ihre Unterhose und hängt sie auf die Leine.
Sie gehen ins Bett.
Das Haus ist nicht verschlossen. Die Gäste werden später kommen und allein ihren Weg in ihre Kammer finden. Hedwigs Mutter hat eine Petroleum-Lampe auf kleiner Flamme brennen gelassen, sie aber hoch gehängt. Es war zu häufig vorgekommen, dass angetrunkene Gäste eine auf dem Boden stehende Lampe umgestoßen hatten. Wie gut, dass dabei durch die auslaufende Flüssigkeit bisher kein Brand entstanden ist.
Nun hängt die Lampe hoch oben und gibt ein unruhiges Licht; denn der Ostwind ist immer noch stark und pfeift durch die Ritzen in den Fenstern.
Hedwigs Mutter denkt an dringend notwendige Reparaturen. Woher soll sie das Material bekommen? Wie soll sie es bezahlen? Wer soll die handwerklichen Arbeiten machen?
Das muss später entschieden werden. Nun geht es erst einmal um Hedwig.
Die Betten stehen „über Eck“, aber zu weit weg, um sich flüsternd verständlich zu machen.
Hedwig Mutter steht auf und geht hinüber zum Bett ihrer Tochter.
„Rutsch mal!“
Widerwillig verzieht Hedwig sich ganz in die Ecke und spürt mit ihrem Rücken die kalte Wand.
Ihre Mutter hat ein Nachthemd aus grober Baumwolle an.
„Nun erzähl mal, wer ist der Kerl?“
Ohne Einleitung kommt ihre Mutter zum Thema.
„Ich weiß nicht“, Hedwig ist ratlos.
Ihre Mutter richtet sich etwas auf – und schon hat Hedwig eine schallende Ohrfeige erhalten, sodass die Wange brennt.
Sicherlich ist die Haut gerötet.
„Lüg nicht, Kinder kommen nicht einfach so!“
Hedwigs Mutter ist ziemlich wütend und aufgebracht. Sie will schon schreien, denkt aber dann doch an die Gäste, die vielleicht schon auf dem Weg zurück sind.
„Ganz von allein wird eine Frau nicht schwanger“, nimmt sie das „Verhör“ flüsternd wieder auf, „hast Du Dich mit Jungen rumgetrieben?“
Hedwig weint stille. Tränen laufen über die brennende Wange. Sie schmeckt die salzige Flüssigkeit, die nicht versiegen will.
„Heulen hilft nicht!“ Ihre Mutter kann sich nicht zu tröstenden Worten erbarmen.
„Das sollte Dein Vater erleben“, setzt sie nach, „der wird sich im Grabe umdrehen!“
Eine Weile schweigen beide, dann geht die Mutter wieder in ihr Bett.
Hedwig ist sehr müde, kann aber trotzdem nicht einschlafen.
Nein, sie hat sich nicht mit Jungen „rumgetrieben“. Wie macht man das überhaupt, rumtreiben?
Hat sich ihre Mutter rumgetrieben, um sie zu bekommen?
Hedwig kann sich gut in andere Menschen und in andere Zeiten versetzen. Im Winter liegt sie lange wach in ihrer Kammer, die, wenn keine Gäste da sind, ihr ganz allein gehört.
Es sind Wach-Träume, deren Thema sie selbst vorgeben kann.
Wenn sie in ihrem Bett liegt und friert, versetzt sie sich gern in den Sommer.
Schon wird Ihr wird wieder wärmer.
Als ihr Vater noch lebte, konnte sie zu ihm Verbindung aufnehmen. Am nächsten Morgen war sie dann oftmals vollkommen am Boden zerstört, wenn sie ihn in einer ausweglosen Situation „besuchte“.
Nun muss Hedwig sich um sich selbst kümmern.
Sie geht ein paar Monate zurück.
Boote der Wanderfischer liegen im Hafen. Sie kommen aus Pellworm, Friedrichskoog, ja, sogar ein paar Holländer sind da. Die sondern sich etwas ab, schimpfen auf die „Nazi Deutschen“.
Hedwig kann mit dem Begriff nichts anfangen. Sie kennt keine „Nazi-Deutschen“. Doch – einer fällt ihr ein: ein Lehrer aus der Schule, der ist aber nicht mehr da.
Zurück zu ihrer eigenen Sache.
Nein, sie treibt sich nicht mit Jungen rum, sie hat ganz andere Gelegenheiten, sich rumzutreiben.
Jeden Tag ist sie im Watt unterwegs. Sie kennt jeden Priel und jeden Weg. Sie kennte jede Stelle, an der sie die Reusen oder Ofenrohre so auslegen kann, dass sie auch Aale fängt. Ohne Hedwigs Fischerei müssten sie und ihre Mutter oft Hunger leiden.
Ihr Vater hat ihr alles gezeigt und beigebracht. Er war es auch, der Mutters guten Spaten beim Wattwurmsuchen kaputtgemacht hatte.
Sie lachten beide darüber und kauften am nächsten Tag einen neuen Stiel.
Ihre Gedanken schweifen immer wieder ab; sie hat Mühe, sich auf sich und den Sohn der Wanderfischer zu konzentrieren. Eines Tages steht er neben ihr im Watt und fragt sie ganz einfach: „was machst Du da?“
Sie gräbt nach Wattwürmern; das müsste der Junge eigentlich wissen.
Sie zieht ihn auf: „ich suche einen Schatz!“
Der Junge lacht, stellt sich breitbeinig vor sie hin und sagt: „hier ist ein Schatz!“
Das „Sch“ kann er nicht so richtig aussprechen. Hedwig überlegt, ob er vielleicht aus Dänemark kommt und einige deutsche Worte nicht so richtig sagen kann oder will oder ob eine kleine Zahnlücke ihn daran hindert.
„Heute Abend fahre ich zum Totten“, erzähl Hedwig, „ich habe ein eigenes Ruderboot!“
Stolz ist sie auf ihren Besitz. Sie ist oft mit dem Boot unterwegs.
„Totten?“ der Junge weiß nicht, was das ist.
„Ich zeige es dir, heute Abend am Hafen!“
Hedwig verabredet sich mit dem Jungen ohne Bedenken – ohne Argwohn.
Der Ebbstrom läuft schon eine ganze Weile.
Hedwig hat alles bereit gemacht. Sie hat ausreichend Würmer dabei und für sich selbst – und vielleicht für ihren Gast – ein paar Schmalzbrote.
Sie zieht den Anker ein und legt ihn nach vorn – ganz in die äußerste Spitze.
Mit ruhigen Schlägen setzt sie das Boot in Bewegung. Es kostet sie kaum Mühe – fast kann sie das Boot vom Strom treiben lassen.
Als sie an der Hafenmauer vorbeikommt, sieht sie den Jungen oben stehen. Er winkt.
Sie winkt nicht zurück – schließlich muss sie rudern und aufpassen, dass er Strom sie nicht am Hafen vorbeitreibt.
Sie muss sich etwas anstrengen, um nicht abzutreiben.
Einmal rutscht ihr der Riemen aus dem Zepter; wie peinlich!
Sie gewinnt ihre Ruhe wieder.
Das Boot liegt an der Hafenmauer.
„Mach schnell“, ruft sie dem Jungen zu, „ich kann mich nicht so lange hier festhalten“.
„Mein Arm wird immer länger“, scherzt sie.
Der Junge klettert die rostigen Sprossen der in die Spundwand eingelassenen Leiter hinunter.
„Pass auf, eine Sprosse fehlt!“
Der Junge springt ins Boot. Es schaukelt.
Hedwig rudert nur ein paar Schläge, dann wirft sie den vorderen Anker ins Wasser.
Hinten hat sie einen kleineren Anker bereitgemacht, den sie zur anderen Seite wirft.
Sie holt die Leine ein und setzt sie stramm. Sie liegen quer zum Strom. So soll es sein.
Hedwig hat zwei Angeln zum Totten bereitgemacht.
„Angeln kann man eigentlich nicht sagen“, erklärt sie dem Jungen, „es ist einfach nur eine Schnur mit dem Blei unten – und da werden die Würmer als Knäul festgemacht“.
„Und so fängt man Aale?“ fragt der Junge.
Da hat schon einer gebissen! Mit Schwung holt Hedwig den Aal in das Boot.
Dieser lässt sofort los und schlängelt sich durch das Wasser, das daumenhoch im Boot steht. Hedwig hat sich nicht die Mühe gemacht, es auszuschöpfen.
Sie zeigt dem Jungen, wie er die Schnur halten muss. „Einmal um den Finger wickeln“, macht sie im vor, „dann absetzen bis zum Grund – und dann ein kleines Stück wieder anheben. Bloß nicht direkt auf dem Grund lassen – dann kommen die Krebse und fressen alles ab!“
Der Junge hat es kapiert, ist ja auch nicht so schwer.
Sie fangen gut.
Die ganz kleinen Aale setzen sie wieder ins Wasser.
Als vollkommen Ebbe ist, bleibt der Strom eine Weile stehen. Die Begeisterung der Aale für die Würmer hat merklich nachgelassen.
„Wenn vollständig Ebbe ist, beißen sie nicht“, weiß Hedwig.
Sie wäscht sich die Hände und macht das Paket mit den Broten auf.
„Hunger?“
Der Junge langt zu und bedankt sich höflich.
Sie bleiben auf ihren Bänken sitzen.
Zahlreiche Aale sind im Boot. „Ein Eimer voll“, schätzt Hedwig, „wenn wir nachher noch welche fangen, dann haben wir für morgen eine gute Mahlzeit zusammen.
Sie freut sich.
Die Aale zwängen sich in jede kleine Öffnung und in jede Ritze des Bootes, drängeln sich sogar in die Schlange mit Tauwerk, die vorn im Bugbereich liegt.
Hedwig greift einige und legt sie in den Eimer, den sie von einem Nachbarn geschenkt bekommen hat.
„Frechdachs!“
Immer wieder schlängeln sie die Aale unter ihre Füße – manche drängeln sich sogar zwischen ihren Zehen hindurch.
„Stört dich das nicht mit dem ganzen Schleim?“ fragt der Junge.
„Mir macht es nichts aus, ich kann mich nachher waschen“, lacht sie.
Der Junge ist nicht so begeistert und nimmt jeden Aal, der ihm zu nahe kommt und legt ihn in den Eimer.
„Lohnt sich nicht“, sagt Hedwig dazu.
Sie schweigen eine Weile.
Hör mal, „das Wattenmeer atmet. Gleich kommt die Flut, dann fangen wir noch mehr!“
Langsam wird es dunkel.
Der Wind ist eingeschlafen. Hedwig kann die einsetzende Flut mit jeder Faser ihres Körpers fühlen.
„Hör mal“, sagt sie schon wieder, als hätte sie das Wunder in Gang gesetzt. Sie ist ganz andächtig.
Der Junge ist nicht ganz so begeistert.
„Wann fahren wir?“ fragt er.
„Eine Stunde solltest Du noch aushalten“, antwortet Hedwig, „sonst lohnt es sich nicht“.
Mit der Flut kommen die Aale, aber der Junge ist ungeduldig und will wieder an Land zu seinen Leuten. Hedwig gibt nach.
Sie holen die beiden Anker ein.
„Schade – nicht einmal alle Würmer gebraucht“, denkt sie, ruft, „die schenke ich euch“ und wirft sie ins Wasser.
Sie setzt den Jungen an der Hafenmauer ab. Er klettert die Leiter hoch.
„Ich komme morgen mal zu Dir“, sagte er, Du wohnst doch in dem Haus am Strand?“
„Ja, mach das!“
Hedwig ist schon wieder unterwegs. Schließlich muss sie das Boot noch klarmachen.
Ihre Mutter will schimpfen, weil es spät geworden ist. „Zu spät“, sagt sie, aber die vielen Aale besänftigen sie.
Sie steht sogar an der gusseisernen Pumpe und sorgt für genug Wasser, damit Hedwig sich waschen kann.
Am nächsten Morgen hat Hedwig den Jungen schon fast vergessen, aber auf einmal steht er vor ihr.
„Willst Du ein paar Aale haben?“ fragt sie ihn.
„Nein, ich esse keinen Fisch“, antwortet er zu ihrer großen Überraschung.
Ein Fischersohn, der keinen Fisch ist. Das hätte sie nicht vermutet.
Sie hat nicht viel Zeit für den Jungen. Er versucht ein Gespräch, aber sie ist nicht zu locken, muss sich um ihre Sachen kümmern.
Sie will die Reusen, die ein Nachbar für sie geflickt hat (ein letztes Mal, Du musst es endlich einmal selbst lernen), an einer neuen, vielversprechenden Stelle aussetzen.
„Ich habe auch einen Aal“, sagt der Junge auf einmal und macht ein geheimnisvolles Gesicht.
Hedwig blickt auf.
„Einen Aal? Wir haben viele Aale – hast Du etwa auch noch einen gefangen? Ich denke, Du magst keinen Fisch.
Aber Du kannst ihn vielleicht verkaufen, wenn er groß genug ist.
Der Junge lacht.
„Alles falsch, ich habe einen Aal in der Hose!“
„Du spinnst!“
Hedwig wird es nun fast zu blöd. Wer hat schon einen Aal in der Hose.
„Ich zeige ihn Dir, aber nicht hier draußen!“
Hedwig will sich aus der komischen Situation befreien und meint: „ich muss los“.
„Schade“, antwortet der Junge.
Doch dann siegt ihre Neugierde.
„Gehen wir kurz in den Netzschuppen“, sagt sie.
Knarrend öffnet sie die Tür.
Der Schuppen ist aus groben Planken und Treibholz zusammengezimmert worden. Das hat noch ihr Vater gemacht. Durch die vielen Ritzen dringt Licht hinein.
Immerhin: das Dach ist dicht und bietet selbst bei starkem Regen Schutz.
„Nun mal los“, sagt Hedwig, „ich muss heute noch viel erledigen!“
„Du musst mir aber auch etwas zeigen“, entgegnet der Junge.
„Was?“
„Ich möchte Deinen Busen sehen!“
„Na gut – aber erst Du!“
Der Junge öffnet seine Hose.
Hedwig sieht hin.
„Einen Aal kann ich gerade nicht erkennen“, sagt sie, „sieht eher aus wie ein Wurm!“
Sie lacht.
Der Junge ärgert sich über ihre Bemerkung.
„Nun Du!“
Sie öffnet den einen Träger ihrer Hose und schiebt das Unterhemd aus grober Baumwolle etwas beiseite.
Der Junge hat auch mehr erwartet. „Du hast ja kaum…“.
Er muss an den alten Fischer denken, der ihm vor ein paar Tagen erzählt hat: „in Amsterdam am Hafen gibt es „Weiber mit Riesenbusen“; bei einigen hängen sie bis zum Bauchnabel“.
Bei diesen Gedanken wächst sein Würmchen.
Hedwig beobachtet die Veränderung.
„Er wacht auf!“
Hedwig zeigt etwas wie Interesse.
„Wenn Du mir Deine Höhle zeigst, dann wächst er sicherlich noch mehr!“
Hedwig merkt nicht, dass der Junge fordernd wird.
„Meine Höhle?“
„Wo bei mir der Aal wohnt, hast Du eine Höhle!“
Den Begriff hat Hedwig dafür noch nie gehört.
Ihre Mutter sagt immer: „wasch Dich auch mal zwischen den Beinen!“
Wenn Hedwig sich gründlicher dort wäscht, weil ihre Mutter warmes Wasser für die Wasch-Schüssel bereitet hat, ruft sie meistens ziemlich bald: „nicht so lange!“
Dabei ist es so ein schönes Gefühl, wenn sie das warme Wasser da überall verteilt.
An manchen Stellen ist es besonders schön für Hedwig, sich zu waschen.
Zögernd hakt sie die Öse des anderen Trägers aus und ihre Latzhose gleitet zu Boden.
Sie steht in ihrer etwas schmuddeligen Unterhose vor dem Jungen.
Peinlich ist ihr das nicht; für gewöhnlich sieht niemand ihre Unterhose.
Der Junge macht einen Schritt auf sie zu.
Er will ihr die Unterhose abstreifen, aber sie kommt ihm zuvor und zieht sie sich bis zu den Knien.
Sein „Ding“ ist inzwischen etwas gewachsen – und als er etwas daran herumfummelt, wächst es noch weiter und steht von seinem Körper ab.
Außerdem verschwindet der Rüssel vorne auf geheimnisvolle Weise und es zeigt sich etwas, das wie ein Pilz aussieht.
Hedwig ist fasziniert. So etwas hat sie noch nie gesehen.
„Du hast ja rote Haare!“
Seine Worte reißen sie aus ihren Gedanken.
Ihre rötlichen Schamhaare empfand sie nie als Besonderheit.
Sie zieht die Unterhose wieder hoch.
„Der Aal will sich in Deine Höhle schlängeln, komm zu mir!“
Hedwig zögert einen Moment.
Aus der Ferne:
„HEEEDWIIIIG“.
Ihre Mutter ruft.
Es gibt Essen.
Misstrauisch blickt die Mutter, die vor der Haustüre steht, zur Hütte.
Blitzschnell zieht Hedwig sich an.
Hat ihre Mutter den Jungen gesehen?
„Warte hier einen Augenblick, meine Mutter soll Dich nicht sehen“.
Hedwig nimmt zwei Reusen und tritt aus dem Schuppen.
Die Reusen lehnt sie an die Außenwand.
Ihre Mutter ist ihr ein Stück entgegengekommen.
„Ich komme – die Reusen hatten sich vertüdelt“.
Hedwig rennt ihren Mutter entgegen.
„Alles in Ordnung?
„Ja, alles in Ordnung. Ich habe Hunger mitgebracht“.
Abends liegt Hedwig lange wach.
Sie muss an den Jungen denken.
Wie soll der Aal in die Höhle?
Sie legt ihre ganze Hand auf das Dreieck zwischen den Beinen.
Sie übt leichten Druck aus.
Ein schönes Gefühl!
So schläft sie ein.
Als sie morgens aufwacht, spürt sie, dass sie feucht und warm ist zwischen den Beinen.
Gut, dass ihre Mutter schon aufgestanden und nicht mehr im Hause ist.
So kann Hedwig sich in Ruhe waschen.
Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Sie hat Mühe, die krakelige Schrift zu entziffern.
Ihre Mutter ist mit den anderen Frauen in das Nachbardorf gelaufen. Dort soll es jemanden geben, der im alten Muni-Lager Kartoffeln verkauft. Die Gelegenheit muss genutzt werden.

Es ist ablaufendes Wasser.
Hedwig macht die Reusen bereit.
Sie geht noch einmal in den Schuppen, um ein paar Stöcke zu holen, die sie in den Wattboden schlagen will, um die Reusen daran zu befestigen.
Sie muss ganz nach hinten und es dauert eine ganze Weile, bis sie das richtige Material gefunden hat.
Die Tür knarrt.
Der Wind?
NEIN, auf einmal steht der Junge hinter ihr.
Er drückt sie an sich.
Bianca D.
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Re: Ostwind

Post 8 im Thema

Beitrag von Bianca D. »

Moin Anne-Mette,

du hattest mir bei meinem letzten Besuch ja schon angekündigt,daß es was Neues gibt bald,nun ist die Wartezeit also um! Und was soll ich sagen? Klasse geschrieben,das macht neugierig auf die nächsten Teile. Ick bin jespannt....

LG Bianca
Ick wees nüscht,kann nüscht,hab aba jede Menge Potenzial
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 9 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Sie dreht sich um und sieht ihn an.
„Sollen wir wirklich?“
„Ja!“
Sie setzt sich auf den Haufen Netze.
Die Hose ist rasch geöffnet; sie fällt auf den Boden.
Auch die Unterhose zieht sie aus.
Ein seltsamer Geruch steigt ihr in die Nase; der von Fisch und Tang und Salz mischen sich mit dem
Duft, der von „zwischen den Beinen“ kommt.
Nun steht der Junge direkt vor ihr.
Sie greift ihn mit den Beinen und zieht ihn zu sich heran.
Er ist aufgeregt und sie weiß nicht, was passieren wird. Angst mischt sich mit Neugierde.
Er findet den Höhleneingang.
Sie ist feucht – wie schleimig - und er kann hineinschlüpfen.
„Tatsächlich – wie ein Aal“, denkt sie.
„Au!“
Kurz tut es weh. Kann er beißen?
Der Junge bewegt sich in ihr – nicht lange.
Dann stöhnt er. Sie fragt sich: „tut ihm etwas weh?“
Er entzieht sich.
Ihre Beine werden schlaff; sie löst die Umklammerung.
Der Junge bringt seine Kleidung in Ordnung und geht wortlos.
Sie liegt da, fragt sich: „was war das?“
Sie ist ein wenig benommen, döst auf den Netzen kurz ein.
Als sie wieder aufwacht, läuft eine seltsame Flüssigkeit an ihren Beinen hinunter: weiß, aber auch Blut. Die Unterhose ist schon nass von dem Zeug.
Sie will und muss die Unterhose waschen – aber was wird ihre Mutter sagen, wenn sie kommt und es hängt mitten am Tag Hedwigs Unterhose auf der Leine?
Sie muss einen Grund finden, die Hose zu waschen; dann fällt es nicht so auf.
Mit zwei Reusen und den Stöcken geht sie ins Watt.
Immer wieder will sie versuchen, auszurutschen und im Schlamm zu landen; aber wenn man das wirklich will und es darauf anlegt, dann wird es nicht gelingen – und die Versuche werden lächerlich. Sie nimmt immer wieder Anlauf, befürchtet langsam, bei ihrem sonderlichen Tun entdeckt zu werden.
Die Reusen hat sie befestigt.
Nun könnte sie eigentlich gehen.
Ihr kommt eine Idee. Sie geht absichtlich zu einer Stelle, vor der sie die anderen Dorfbewohner immer gewarnt hat. Dort sinkt man tief in den Schlick.
Sie erreicht die Stelle, ist im Nu bis zu den Knien versunken.
Tiefer sinkt sie – bis zu den Oberschenkeln.
Es wird Zeit, sich wieder rauszuziehen.
Das sollte eigentlich mithilfe des Spatens geschehen, der vor ihr im Schlick steckt.
Sie greift den Stiel und will sich hochziehen.
Sie rutscht aus und landet mit dem Bauch zuerst im Schlick.
Von oben bis unten ist sie mit der zähen Masse bespritzt.
Ihre Hose und Unterhose sind nass und dreckig.
Nun rutscht sie auch noch zurück – und sitzt im Schlammloch.
Sie greift den Spaten wieder und kann sich hochziehen. Nur zwei…drei Schritte muss sie machen, dann steht sie wieder auf festerem Grund.
Nun ist wirklich alles vollkommen dreckig und sie muss nicht befürchten, dass ihre Mutter Verdacht schöpft.
Sie fragt sich die ganze Zeit, was das für eine Flüssigkeit war. Und woher kam das Blut?
Es scheint nichts Schlimmes zu sein; denn ihr tut nichts mehr weh.
Ein verstohlener Blick in die Unterhose zeigt ihr, dass die Blutung aufgehört hat.

„Wie siehst Du denn aus?“
Ihre Mutter empfängt sie nicht gerade freundlich.
„Ich bin versackt“.
Da auch der Nachbar vor ein paar Tagen in einem Schlickloch versunken ist und sich nur mit Mühe befreien konnte, ist die Mutter ihr nicht lange gram. „Kann passieren“, sagt sie, „mit Kaltwasser werden wir die Wäsche aber nicht sauber bekommen. Ich setze einen Kessel auf den Herd. Den habe ich gerade angeheizt, damit wir Kartoffeln kochen können. Ich habe doch tatsächlich 10 Kilo bekommen.
Hedwig geht hinaus an die Pumpe und füllt den Kessel mit Wasser.
Sie hat richtig Glück. Eine Nachbarin kommt zu Besuch.
Dieses Mal ist Hedwig froh, dass sie sich alleine um ihre Wäsche kümmern muss.
Sie hat alles ausgezogen und sich in der Küche gewaschen.
Gerade als sie fertig ist, kommt die Nachbarin.
Die bringt vier Eier mit. „Zu den Kartoffeln“, sagt sie zu Hedwigs Mutter.
Hedwig muss ein altes Kleid anziehen; denn weitere Latzhosen hat sie nicht.
Ihre Mutter sucht etwas im Schrank – und findet tatsächlich eine Unterhose für Hedwig.
Das Kleid kratzt auf der Haut.
Sie essen gemeinsam mit der Nachbarin.
Hedwig zieht sich früh zurück.
Sie kann es kaum abwarten, in ihrem Bett zu liegen.
Ihre Hände wollen forschen.
Die Handfläche liegt wieder auf dem Dreieck mit den rötlichen Haaren.
Sie übt sanften Druck aus.
Die Höhle ist doch bestimmt nicht nur dazu da, dass ein Mann…
Sie führt den Gedanken nicht zu ende, aber ihr Mittelfinger sucht sich seinen Weg.
Schleim.
Sie muss an Aale denken.
Sie schläft ein.

Das ist nun gut zwei Monate her.
Wie soll Hedwig es ihrer Mutter erklären?
Es ist noch ganz früh, als sie vor ihrem Bett steht: „nun sag es, wer hat Dir ein Kind gemacht?“
Es muss raus.
Einfach so, ganz kurz, ohne Einzelheiten, die ihr immer noch ein Rätsel sind.
Sie muss es loswerden. Eines ist ihr klar: mit Aalen und Höhlen darf sie ihrer Mutter nicht kommen.
Hedwig: „der Sohn eines Wanderfischers war’s!“
„So, das habe ich mir doch gleich gedacht, als Du öfter so lange im Netzschuppen gewesen bist!
Du bist ein verdorbenes Mädchen.
Du gehst hinunter zum Hafen und kommst nicht ohne den Jungen zurück“.
Hedwig hat keinen Hunger, ist ganz durcheinander.
Gewitterluft; eigentlich ideal zum Fischen.
Aber erst muss sie hinunter zum Hafen.
Die meisten Boote sind draußen, aber sie trifft Willi, der sich für die nächste Fahrt vorbereitet.
„Kommst Du wieder mit?“
„Nein“, sagt sie, dabei käme ihr eine Flucht – und sei es auch nur für einen Tag – ganz gelegen.
„Wo sind die Wanderfischer?“
Willi zögert einen Moment. Umständlich stopft er seine Pfeife.
„Welche meinst Du? Es waren insgesamt acht fremde Boote hier im Hafen; aber die meisten sind schon fort!“
„Ich suche einen Jungen!“
Hedwig fängt an zu weinen, beschreibt aber den Jungen nach den wenigen Eindrücken, die sie noch in Erinnerung hat. Seit der letzten Begegnung um Netzschuppen hat sie ihn nicht mehr gesehen, obwohl sie oftmals verstohlen Ausschau nach ihm gehalten hat.
„Mit Tränen wirst Du keinen Jungen finden“.
Willi ist endlich fertig mit seiner Pfeife.
Sein Benzinfeuerzeug muss er mehrmals in Gang setzen, bis sich endlich Tabakrauch ausbreiten kann.
„Du hast doch immer so viel vor; da macht man sich doch keine Gedanken um einen Jungen!“
Willi ist immer noch davon überzeugt, dass es sich um eine Schwärmerei eines jungen Mädchens handelt.
„Ich soll ihn holen“.
Hedwig macht es dringender, „Mutter will ihn sprechen!“
„So so“, Willi wirkt immer noch wie unbeteiligt, aber nachdenklich.
„De sünd all wech!“
Hedwig ist entsetzt, „dann fahre ich doch gleich mit Dir mit, vielleicht sehen wir sie unterwegs!“
„Datt hett keen Sinn; de sünd all lang wech!“
Die Auskunft bringt Hedwig nicht weiter.
„Wie lange?“
Willi besieht sich eine Finger, als müsste er die Tage zählen, aber dann besinnt er sich:
„Twee Maanden!“
Kein Wunder, dass sie ihn nicht mehr gesehen hat.
Sie hat noch die Worte ihrer Mutter im Sinn; sie soll nicht ohne den Jungen zurückkommen; aber wo soll sie ihn suchen?
Willi hat inzwischen begriffen, dass es um eine ernsthafte Angelegenheit geht.
Er mag Hedwig und kaum mit ansehen, dass sie leidet.
„Du darfst Dein Herz nicht an einen Wanderfischer hängen“, meint er nachdenklich, „die sind wie der Wind. Mal sind sie da – und mal sind sie ganz schnell wieder fort!“
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Re: Ostwind

Post 10 im Thema

Beitrag von Saskia.shewulf »

hallo Anne-Mette,

das wird immer spannender freu mich schon auf die Fortsetzung (ap)

Lg Saskia (flo)
Wer keinen Mut zum träumen hat
-hat keine Kraft zum Kämpfen
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 11 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Ein Wanderfischerboot liegt doch noch im Hafen.
Dort könnte Hedwig fragen, ob man sie mitnimmt.
Sie hat aber noch nie gesehen und erlebt, dass eine Frau auf einem Fischerboot angeheuert hat.
Ein Versuch wäre es wert, aber der sollte gut vorbereitet sein.
Sie verabschiedet sich von Willi und geht zurück zum Haus.
Ihre Mutter ist nirgendwo zu sehen. Sicherlich ist sie wieder unterwegs, um irgendetwas zum Essen zu organisieren.
Hedwig holt sich aus der Küchenschublade eine Schere und geht hinter das Haus.
Sie schneidet sich die Haare – ganz kurz.
Als sie ihr Werk vollendet hat, bringt sie die Schere zurück. Sie wirft einen Blick in den alten halbblinden Spiegel, der über der Spüle hängt. Sei bekommt einen Schreck vor ihrem Spiegelbild; denn die Haare sind ganz kurz und sie sieht aus wie ein Kerl.
Etwas wild.
Von ihrem Vater müsste noch eine alte Schiffermütze da sein – und eine Pfeife.
Die Mütze ist ihr fast zu groß.
Die Pfeife schmeckt eklig, auch ohne Tabak.
Hedwig guckt noch einmal um die Ecke. Der Wind hat inzwischen die Haare weggefegt.
Einige haben sich allerdings in der Rosenhecke festgesetzt, als wollten sie sagen: „wir lassen uns nicht so einfach vertreiben!“
Hedwig steckt einen kleinen Beutel in ihre Latzhosentasche. Sie hat übers Jahr kleine weiße Federn gesammelt; die will sie beim Makrelenangeln einsetzen.
Hedwig gibt sich einen Ruck, denkt noch einmal an die Weisung der Mutter, nicht ohne den Jungen zurückzukommen.
Sie geht hinunter zum Hafen.
Wie gut: Willi ist nicht mehr da.
Sie steht vor dem Boot des Wanderschiffers und ruft: Schiffer, komm an Deck!“
Unten poltert es.
Der Schiffer stellt sich breitbeinig an Deck.
„Was willst Du, das Du so einen Krach machst?“
„Mitsegeln!“
Der Schiffer überlegt einen Moment. Er liegt nur noch im Hafen, weil einer der Burschen, der zwei Tage Heimaturlaub haben wollte, selbst nach zwei Wochen nicht zurückgekommen ist.
Ärgerlich!
Der Schiffer will nicht zugeben, dass ihm ein neuer Leichtmatrose aus großer Not helfen würde.
Er fragt: „wie heißt Du? was kannst Du? was willst Du?“
„Fritz“ sagt Hedwig schnell, ohne lange nachzudenken.
„Hier heißen wohl viele Menschen Fritz!“
Der Fischer stopft sich eine Pfeife.
„Hoffentlich bietet er mir nicht Tabak an“; denkt Hedwig, aber dann ist es auch schon geschehen: der Fischer hat entdeckt, dass eine Teil ihrer Pfeife aus ihrer Latzhose hervorschaut.
„Rauchen tust Du auch schon?“ fragt er sie.
„Ja, schon lange!“
„Na, dann kommt!“
Hedwig klettert an Bord. Der Fischer hält ihr seinen Tabaksbeutel hin.
Sie klopft erst einmal, wie sie es bei Willi gesehen hat, die Pfeife auf ihr Knie. Ein paar Tabakreste fallen aus der Pfeife und auf das Deck.
„Du sollst das Deck schrubben, wenn es so weit ist, aber nicht schietig machen!“
Der Fischer lacht.
Hedwig errötet, aber versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass sie unsicher ist und gleich das erste Mal rauchen wird.
Mit Daumen und Zeigefinger nimmt sie eine Portion Tabak; der Fischer hält den Beutel immer noch hin. Wie gut, dass sie schon so oft zugesehen hat: mit geschickten Fingern kann sie die Pfeife stopfen.
Nun das Anzünden.
Es kommen aber zwei weitere Fischer an Deck; die Pfeife gerät in Vergessenheit und Hedwig ist froh, dass sie sie wieder einstecken kann, ohne dass es auffällt.
„Aber wir haben einen Schiffsjungen“, rufen die beiden Fischer, noch bevor Hedwig oder der Kapitän etwas gesagt haben.
„Da kannst lang op töven,“ entgegnet der Fischer, „wenn der Neue etwas taugt, dann geht es heute los!“
Die beiden jungen Fischer machen keinen begeisterten Eindruck.
„So, Fritz, kommen wir zur nächsten Frage: was kannst Du?“
Hedwig erzählt begeistert vom Aalefangen, vom Watt, vom Buttpedden, vom Totten.
„Da bist Du bei uns falsch, das machen wir alles nicht!“
Die jungen Fischer scheinen zufrieden und wollen sich abwenden. Sie haben einen verächtlichen Gesichtsausdruck und machen eine abweisenden Handbewegung.
„Und – Makrelenfangen!“
Der alte Fischer guckt interessierter.
Hedwig wird mutig: „ich wette mit euch, dass ich mehr fange als die beiden dort!“
Sie zeigt auf die Jungfischer.
„Du willst wetten? Was hast Du denn zu verwetten?“
„Meine erste Heuer!“
„Heuer gibt es nicht viel“, antwortet der alte Fischer, „das wenige Geld würde ich nicht verwetten!“
Aber er ist neugierig geworden.
Irgendwie gefällt ihm der neue Schiffsjunge.
Ein wenig kräftiger könnte er noch werden, sieht noch fast wie ein Mädchen aus.
Er blickt zum Flaggenmast. Westwind und ablaufendes Wasser. Sie könnten auslaufen.
„Wo willst Du hier Makrelen fangen?“
„Am besten wäre es auf der Nordsee“, antwortet Hedwig, „aber wir können auch einen kleinen Schlag zur Rauling machen, vielleicht haben wir da Glück!“
fischer.jpg
Sie laufen unter Segeln aus.
Später hört Hedwig , dass der Motor kaputt ist.
Wie sollen sie weiter – oder zurückkommen?
Egal – jetzt geht es erst einmal ums Angeln.
Sie segeln die Linie an den Barken entlang.
Die etwas größere Kopfbarke grüßt von der linken Seite.
Der alte Fischer hat noch nichts von der Rauling gehört, lässt sich aber nichts anmerken.
Hedwig übernimmt das Ruder.
Es ist nicht besonders weit.
„Die Segel können runter“, ruft sie, „wir lassen uns treiben und angeln dabei!“
Die beiden Jungfischer machen sich lustig über sie.
Der alte Fischer verteilt die Handangeln.
Hedwig wendet sich von den anderen ab, so können sie nicht sehen, dass sie mit geschickten Händen einige der mitgebrachten Federn an den Haken befestigt. Sparsam will sie mit ihren Schätzen umgehen. Wer weiß, wo sie die noch einsetzen wird.

Die Jungs sind nicht schlecht, ruckzuck holen sie die ersten Makrelen aus dem Wasser.
Hedwig ist etwas ins Hintertreffen geraten, hat ziemlich lange gebraucht, die Federn richtig an den Haken zu befestigen, schließlich sollten sie nicht gleich abgerissen werden.
Sie holt auf.
Wenn die Jungs zwei oder drei Fische von den Haken lösen, so hat Hedwig es mit fünf Exemplaren zu tun. Sie arbeitet ruhig und bedächtig, nicht so hektisch wie die beiden Jungs. Die haben sich so in einen Wettstreit hineingesteigert, dass sie unvorsichtig mit den Schnüren werden, die sich verheddern. Sie verlieren wertvolle Zeit.
Hedwig liegt vorn, als der alte Fischer das Wettangeln für beendet erklärt.
Auch beim Ausnehmen und Waschen muss Hedwig sich nicht verstecken. Sie hat gut von Willi gelernt. Der alte Fischer ist von ihren Fähigkeiten richtig begeistert und denkt: „mit Fritz werde ich einen guten Schiffsjungen bekommen!“
Da der Motor nicht funktioniert, wollen sie sich ein Stück treiben lassen und dann vor Anker gehen.
Am nächsten Morgen wollen sie weitersegeln und hoffen auf frischen Wind.
Auf einem Petroleumkocher braten sie Makrelen; dazu gibt es Brot, mit dem sie den Rest Bratenfett aus der Pfanne tunken.
Der alte Fischer zieht sich in die Koje zurück, die Jungen sind noch nicht müde. Sie prahlen mit Erlebnissen und Geschichten.
Als in der Kajüte deutliche Schnarchgeräusche zu hören sind, schleicht sie einer der beiden Jungs an die Mittelbilge und öffnet ein Bodenbrett. Er fördert einen großen Glasballon mit Bier zutage.
Sein Kollege holt aus der Pantry eine große Tasse. Gläser scheinen sie nicht an Bord zu haben.
Die Tasse wird gefüllt und rumgegeben.
Hedwig verabscheut den bitteren Geschmack und trinkt immer nur einen kleinen Schluck.
Die beiden Jungs sind wohl kein Bier gewohnt. Sie werden schnell betrunken.
Ihnen fallen merkwürdige Ideen ein.
„Beim Fischen hast Du gewonnen, hast den Käpt’n wohl mächtig beeindruckt“, sagt der ältere der beiden Matrosen, „aber nun geht es um eine andere Sache: wir wollen mal sehen, wer am weitesten pinkeln kann!“
Mit Mühe rafft er sich auf und stellt sich an die Bordwand. Er muss sich am rostigen Drahtseil der Mastverstagung festhalten, schwankt trotzdem hin und her.
„Mist!“ Er schimpft, hat kräftig in ein abstehendes Drahtstück gegriffen.
Die Hand blutet.
Er schimpft lauter.
Der alte Fischer wird unruhig in seiner Koje, ruft: „Jungs, vertragt euch!“
„Der Alte steht bestimmt gleich auf!“
Der unverletzte Jungfischer verstaut schnell den Glasballon mit dem Bier in der Bilge und spült die Tasse aus, indem er sie kurz über Bord hält.
„Alles in Ordnung?“
„Ja Käpt’n“.
Der guckt kurz „ins Wetter“, dann ist er wieder in seiner Koje verschwunden.
Die Jungs wollen das Spiel wieder aufnehmen; der eine hat ein dreckiges Taschentuch um seine blutende Hand gewickelt.
Sie schicken einen ziemlich weiten Strahl ins Wasser, wie Hedwig aus den Augenwinkeln
erkennen kann.
„Fritz, nun Du! … wollen wir doch mal sehen, ob Du da auch so stark bist wie beim Fischen“.
Hedwig stellt sich schlafend.
Sie hat die Beine lang auf der seitlichen Bank und lehnt mit dem Oberkörper gegen die Wand der Kajüte.
Die beiden Jungs kommen und schütteln sie, aber sie sagt nur: „lasst mich in Ruhe schlafen!“

Die Jungs geben sich nicht so richtig damit zufrieden, aber sie ziehen sich erst einmal zurück. Sie reden miteinander und Hedwig kann „ausziehen“ und „ins Wasser werfen“ hören.
So ganz ungefährlich sind die wohl nicht.
Das Bier hat sie allerdings müde gemacht. Bald schnarchen sie genauso lauft wie der Kapitän.
Hedwig versucht sich zu orientieren.
Im Sommer ist selbst in der Nacht noch eine ganze Menge zu sehen.
Das Schiff hat sich knarrend auf eine Schlickbank gelegt.
Hedwig denkt an das Kind, das in ihrem Bauch wächst. Vielleicht ist die Idee, mit den Fischern nach dem Vater zu suchen doch nicht so gut.

Es ist Niedrigwasser. In zwei Stunden wäre sie zuhause. Sie fasst einen Entschluss.
Ganz vorsichtig steht sie auf und geht nach vorne. An der Ankerkette kann sie sich festhalten und vorsichtig über die Bordwand klettern.
Geschafft! Sie steht im Schlick.
Ein kurzer Blick – und sie weiß, in welche Richtung sie gehen muss.
Es ist eine ziemlich weite Strecke, aber sie kommt gut voran.
Sie sieht ihr Elternhaus. Es wird Zeit; die Flut läuft auf.
Durch den tiefen Priel muss sie noch.
Das Wasser reicht ihr fast bis an die Brust.
Endlich wird es etwas flacher.
Sie sieht ihr kleines Ruderboot – und freut sich.
„Ihre Bucht“, das kleine Boot und das Dorf, das ist ihr Leben – und nicht die Wanderfischerei.
In der Küche ist noch Licht.
Hedwigs Mutter ist aufgeblieben, hat rotgeweinte Augen, aber begrüßt sie kühl: „na, wo ist der Junge?“
Du hast keine ausreichende Berechtigung, um die Dateianhänge dieses Beitrags anzusehen.
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 12 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Das Abenteuer mit den Wanderfischern hat ihr nichts gebracht; aber sie fühlt sich irgendwie stärker und erwachsener. Auf dem langen und anstrengenden Weg durch das Watt hat sie nachgedacht.
Das Haus gehört ihr zusammen mit der Mutter und gerade Hedwig trägt viel zum Broterwerb bei, indem sie sich um die Fischerei kümmert.
Wozu braucht sie einen Jungen, den sie kaum kennt, um ein Kind aufzuziehen?
„Ich habe ihn nicht gefunden, er ist fort“, sagt Hedwig.
„Und wie stellst Du Dir jetzt Dein Leben vor? Das Kind soll ohne Vater aufwachsen?“
„Ich bin auch viele Jahre ohne Vater aufgewachsen“, entgegnet Hedwig.
Ihre Mutter setzt fort: „und was sollen die Leute denken?“
Das ist Hedwig egal. Die Leute werden eh denken was sie denken wollen.
Außerdem: auf der Insel gibt es viele Frauen, die ein Kind alleine großziehen.
„Ich bin müde!“
Hedwig wäscht sich und geht ins Bett.
Ihre Mutter bleibt noch länger in der Küche sitzen.

Der nächste Tag meldet sich wieder mit frischem Ostwind. Ob Willi zum Makrelenangeln rausfährt? Hedwig geht hinunter zum Hafen und schaut nach.
Tatsächlich – Willi trifft Vorbereitungen zum Auslaufen. Keine Frage, klar, dass Hedwig mitfahren darf.
Heute sind sie nur zu zweit. Ernst hat gerade abgesagt, soll sich bei seinem Lehrherrn im nächsten Dorf einfinden; denn seine Lehre als Tischler beginnt nächste Woche. Willi ist froh, das Hedwig gekommen ist, meint: „und ich dachte schon, Du bist fortgegangen!
Wo hast Du bloß Deine schönen Haare gelassen?“
Sie sagt nichts dazu, sondern stapelt die Fischkisten um.
Willi und Hedwig müssen nicht viel reden; sie verstehen sich auch ohne viele Worte.
Die Fahrt wird genau so erfolgreich wie die letzte. Allerdings schaffen sie kaum, die ganzen Makrelen auszunehmen und zu waschen. Sie sind schon fast am Hafen, da sind sie doch fertig damit.
Die Wanderfischer haben sie unterwegs nicht gesehen. Hedwig ist ganz froh.
Willi kann heute besonders spendabel sein, will Hedwig 20 Mark geben – ein halbes Vermögen!
„Bitte spare das Geld für mich, ich melde mich, wenn ich es brauche“.
Hedwig drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Mit so viel Geld hat sie nicht gerechnet.
Sie wird es eines Tages brauchen können.
Außerdem darf sie so viele Makrelen mitnehmen, wie sie möchte.
Der Gastwirt aus der Stadt kommt wieder. Nun weiß Hedwig, warum Willi so spendabel ist: der Mann drückt ihm mehrere Scheine in die Hand.

Hedwig schleppt eine ganze Kiste voller Makrelen nach Hause.
Es ist eine arge Plackerei.
Mehrmals muss sie die Kiste absetzen, kann nicht mehr tragen, aber dann geht es doch weiter.
Sie hat einen Plan. Otto hat ihr schon oft angeboten, seinen Räucherofen zu benutzen, um Aale zu räuchern.
Das müsste doch auch mit Makrelen gehen?
Otto steht auf seinem Hofplatz, wie Hedwig es erwartet hat. Sie kommen gleich ins Geschäft.
Er will das Räuchern übernehmen, wenn er einen Anteil bekommt. Hedwig ist einverstanden.
Otto heizt den Ofen gleich an und wird sich melden, wenn alles so weit ist.
Hedwig geht erst einmal rüber ins Haus.
„Hast Du gar kein Geld bekommen?“ ist die erste Frage ihrer Mutter.
„Nein, noch nicht“, ist die ehrliche Antwort.
„Otto räuchert für mich; dann werden wir sicherlich ein paar Mark verdienen, wenn wir die Fische an Sommergäste verkaufen!“
Die Mutter nickt anerkennend. Das scheint ein guter Plan zu sein. Trotzdem wundert sie sich, dass Hedwig kein Geld mitgebracht hat.
Abends kommt Otto mit den Fischen.
Er hat sie in zwei flache Holzkisten gelegt, die er „bei Gelegenheit“ zurückhaben möchte.
Seinen Anteil hat er sich schon genommen.
Hedwig kann es kaum erwarten, nimmt sich eine Makrele und probiert.
„Vorzüglich“, schmatzt sie.
Auch ihre Mutter greift zu und ist genauso begeistert.
Sie bietet sich sogar an, die Fische unter die Leute zu bringen. Das wird einen schönen Extra-Verdienst geben!
Sie bleibt ziemlich lange weg.
Hedwig ist schon eingeschlafen, als sie endlich kommt.
Sie scheint alle Fische verkauft zu haben; denn die leeren Kisten stehen am nächsten Morgen vor dem Haus.
„Geht es heute wieder los?“, fragt Otto, als sie ihm die Kisten zurückbringt.
Hedwig hat noch nicht mit Willi gesprochen. Auch scheint das Wetter heute nicht so gut zu werden. Es sieht nach stärkerem Westwind aus; da können sie mit dem kleinen Kutter nicht auf die Nordsee hinausfahren.
Außerdem müsste Hedwig dringend nach ihren Reusen und den Ofenrohren gucken.
„Vielleicht gibt es Aale heute Abend“, sagt sie zu Otto, „Willi wird heute bei dem Wind wohl nicht rausfahren!“
Otto ist einverstanden. „Ich bereite schon alles vor“, kündigt er an.
Hedwig setzt sich erst einmal auf die Düne und wartet darauf, dass sie ins Watt kann.
Endlich ist es soweit.
Sie scheint wieder Glück zu haben: schon mittags hat sie eine kleine Zinkwanne voller Aale zusammen und bringt sie zu Otto.
Der will sich um alles Weitere kümmern und später wieder zu ihr rüberkommen.
Hedwig ist müde und geschafft von den Anstrengungen der letzten Tage und ihr Bauch scheint ihr noch dicker geworden zu sein.
Sie legt sich auf ihr Bett und döst ein.
Von Stimmengewirr wird sie wach.
Ihre Mutter hat Besuch.
Es ist nicht die nette Nachbarin, die vor ein paar Tagen dagewesen ist, um Eier zu bringen, sondern eine garstige Frau, die unter den Kindern und Jugendlichen keinen guten Ruf hat.
Hedwig ist entsetzt, was sie hört, obwohl die beiden Frauen leise sprechen. Die Rede ist von „Kind wegmachen“ und „Hedwig fortschicken“.
„Zu spät zum Wegmachen“, hört Hedwig ihre Mutter sagen.
„Dann kannst Du das Kind aussetzen, wenn es da ist“, sagt die Nachbarin, „irgendjemand wird sich schon darum kümmern!“
Hedwig dreht sich um in ihrem Bett.
Es knarrt. Da erst bemerken die beiden Frauen, dass Hedwig in der Kammer ist.
„Ich muss mal los, nu“ – die Nachbarin verabschiedet sich.
Beim Gehen stößt sie fast mit Otto zusammen, der die Aale bringt.
„Dann kann ich ja gleich einen Aal…“.
„Nein ruft Hedwig; die Frau bekommt keinen!“
Otto ist etwas erstaunt und erschrocken, aber hält sich an Hedwigs Anweisung.
„Das hättest Du nicht tun sollen“, ruft die Mutter entsetzt, „Hermine kann Verwünschungen aussprechen! Denk an das Kind von Elisabeth, das wurde tot geboren, nachdem die beiden Frauen in Streit geraten waren“.
„Ach – Tünkram!“ Otto will die Situation retten, „ihr glaubt doch wohl nicht an Hexerei?!“
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Re: Ostwind

Post 13 im Thema

Beitrag von Laura R »

Hallo Anne-Mette,
Super geschrieben und auch spannend. Ich freue mich auf die Fortsetzung .
Lg Laura
Ich bin wie ich bin und weiß wer ich bin. Das gut so!
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 14 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Hedwigs Mutter macht sich mit einer Karre auf den Weg, die geräucherten Aale unter die Leute zu bringen.
Sie kommt erst in der Nacht zurück.
Davon bekommt ihre Tochter nichts mit, sie schläft tief und fest.

Wellenklang – ein frischer Ostwind holt Hedwig morgens aus dem Bett.
Sie will gleich hinunter zum Hafen zu Willi und schauen, ob er wieder ausläuft. Die Chancen stehen gut!
Es hat sich bestimmt herumgesprochen, dass sie „guter Hoffnung“ ist.
Die Leute, die sie unterwegs trifft, stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Sie zeigen sich abweisend, gönnen ihr aber doch ein „Moin“.
Sie wollen es wohl nicht ganz mit ihr verderben; schließlich hat sie manchem zu einer Mahlzeit verholfen, weil sie in der Vergangenheit ihr Brot (oder ihre Fische) mit ihnen geteilt hat.
Bei Otto stehen ein paar Burschen um ein Lagerfeuer.
Obwohl es noch früh am Morgen ist, wird schon Bier getrunken.
Hedwig setzt die Kisten ab.
Nachdenklich blickt sie in das Feuer.
In der Mitte lodert es hell auf.
Ein paar Holzstücke brennen noch nicht in ganzer Länge, sondern ragen etwas aus dem Feuer hinaus.
„Da kommt ja Hedwig“, grölt einer der Burschen und wendet sich direkt an sie, „kommst Du heute Abend in meine Kammer?“
Die anderen Jungs grölen, als er fortfährt: „schwanger kannst‘ ja nu‘ nich‘ mehr werden!“
Hedwig stellt sich vor ihm auf.
„Klatsch!“ Da hat er ihre fünf Finger im Gesicht.
Damit hat er nicht gerechnet.
Er rappelt sich auf und will Hedwig packen, aber sie tritt einen Schritt zurück und greift sich ein Holzstück, das nur zur Hälfte brennt.
Das nicht brennende Stück nimmt sie als Griff und fuchtelt mit dem anderen Teil vor dem Gesicht des Burschen herum, als hätte sie ein Schwert in der Hand.
Das Gegröle verstummt. Die Jungen sehen, dass es ihr ernst ist.
„War nur Spaß“, sagt der Rädelsführer, „wir werden doch einer jungen Mutti nichts tun!“
„Mutti – da gehörst Du selbst noch hin, dass sie Dir ein wenig Benehmen beibringt!“
Nun lachen die Jungs über ihren Macker, aber nur zögernd.
Hedwig lässt es dabei bewenden und macht sich auf den Weg zum Hafen.
Auch Willi hat wohl davon gehört, dass sie ein Kind erwartet.
„Wie schaffst Du das alles?“, fragt er sie, „es wird nicht mehr lange dauern, dann kannst Du nicht mehr ins Watt gehen – und allein schon überhaupt nicht. Stell Dir vor, bei der Anstrengung passiert Dir oder dem Kind etwas“.
Daran hat Hedwig auch gedacht, aber das Geld muss im Sommer verdient werden, wenn Gäste auf der Insel sind. Im Winter hat niemand Geld, etwas zu kaufen.
Die Aussichten auf einen neuen Fang sind nicht schlecht, da ist Willi ihrer Meinung und startet den Motor. Hedwig ist für die Leinen zuständig.
Sie haben Mühe mit dem Ablegen; denn der Wind drückt sie an die Kaimauer. Willi muss einige Manöver fahren, deshalb heißt es auch nicht „Leinen los“, sondern zuerst „Achterleine los“.
Bei belegter Vorleine „dampft“ Willi das Schiff in eine Position, die ein Ablegen ermöglicht.
Hedwig hat die Leine „auf Slip“ gelegt und kann sie im richtigen Moment loslassen.
Als sie endlich die Fahrrinne erreicht haben, sind sie schon nassgeschwitzt.
Sie laufen mit dem Ebbstrom raus. Im Pander Tief stehen Wind und Strom heftig gegeneinander. Sie werden schrecklich nass. Das Schiff schaukelt heftig. Alles purzelt durcheinander, auch die sorgsam aufgestapelten Fischkisten.
An den Kanten der Sandbänke brechen sich die Wellen.
„Da möchte ich jetzt nicht auflaufen, das gibt Kleinholz“. Willi ist nachdenklich, aber strahlt Ruhe aus. Im Schutze seiner offenen Jacke hat er sich sogar eine Pfeife gestopft.
Hedwig muss das Ruder übernehmen, damit er sie anzünden kann. Tabakgeruch vermischt sich mit dem Duft von Diesel und Salzwasser.
Richtig froh sind sie erst, als sie List hinter sich haben und nach Backbord abdrehen können.
Hedwig entdeckt wieder einen Schwarm an der gleichen Stelle.
Da sie und Willi wieder allein sind, wird es ein harter Tag, aber sie bringen ihren Fang gut in den Hafen. Als Hedwig gehen will und Willi einige Gelscheine hervorholt, sagt sie ihm: „bitte spare auch das Geld für mich“.
Er steckt das wieder Geld ein.
„Ich muss noch mit Dir schnacken!“
Willi kommt etwas unbeholfen ins Gespräch. Er weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll.
Hedwig rechnet schon damit, dass es die letzte gemeinsame Fahrt war und sie nicht mehr mitkommen soll.
„Zwei Sachen habe ich sogar“, macht Willi einen neuen Anfang, aber er tut sich schwer.
„Nu mach schon, auch wenn es schlimm ist!“
Hedwig kann es nicht erwarten.

„Du hast Dich fein rausgemacht bei mir an Bord“. Endlich kommt er „zu Potte“.
Es wird Zeit, dass wir über eine Bezahlung reden; denn ohne Deine Hilfe könnte ich nicht rausfahren. Wir werden einen gerechten Lohn aushandeln – nach alter Väter Sitte:
einen Anteil für das Boot – und je einen Anteil für Dich und für mich – wenn wir etwas fangen!“
Hedwig weiß nicht, was sie sagen soll. Eigentlich steht Willi als „Käpt’n“ ein größerer Anteil zu.
Sie knufft ihn und sagt „Danke, damit habe ich nicht gerechnet. …und die zweite Sache?“
Ja, auch damit tut Willi sich etwas schwer.
„Ich habe da einen Jungen, der Dir mit den Reusen helfen könnte“, setzt er zögernd fort.
„Wer?“
Hedwig ist gespannt.
Sie versteht nicht, warum Willi so ein Brimborium macht.
„Karl ist es!“
Hedwig will sich entsetzt abwenden. Von Karl wird gesagt, er wäre „zurückgeblieben“. Sogar in der Schule haben sie aufgegeben, ihm etwas beibringen zu wollen und er durfte nicht mehr kommen.
Er kann wohl kaum lesen und schreiben. Er spricht auch selten mit einem Menschen - und wenn, dann ist er so aufgeregt, dass er so ins Stottern gerät, dass man nicht versteht, was er sagen will.
Ausgerechnet Karl soll sie als Gehilfen nehmen?
„Geh hin und sprich mit Karl!“ Willi wird eindringlicher, „aber wenn ihr euch einig werdet, dann gibst Du ihm selbst den Lohn und nicht seinen Eltern. Die versaufen das Geld nur!“

Hedwig gibt sich einen Ruck; denn sie weiß, wie wichtig es ist, eine Chance zu bekommen.
Heimlich rechnet sie damit, dass Karl sowieso nicht mit ihr sprechen will.
Mit ein paar Makrelen macht sie sich auf den Weg in den Norden des Dorfes.
Karls Mutter steht barfuß in einem Gemüsebeet und müht sich mit einer Hacke ab.
Misstrauisch blickt sie auf, als Hedwig vor den Fragmenten des Gartentores steht: „watt wi‘st Du denn?“
„Flittchen“ fügt sie kaum hörbar hinzu.
„Ich bringen ein paar Fische – und ich habe vielleicht Arbeit für Karl!“
„Karl muss man zur Arbeit prügeln, ich glaube nicht, dass Du das kannst“, sagt sie herablassend.
Sie ist ans Tor gekommen und nimmt Hedwig die Fische ab. „Besten Dank ok!“
Drinnen in der Nissenhütte scheint jemand zu sein; denn Hedwig hört Geräusche.
„Karl, kumm‘ mal rut!“
Karl erscheint und wundert sich, dass es so hell ist. Er muss seine Augen mit den Händen vor dem Sonnenlicht schützen. Dann erst sieht er, dass Hedwig gekommen ist.
„Hier will Dich jemand sprechen!“
Hedwig redet ruhig und freundlich mit ihm: „ich habe vielleicht eine Arbeit für Dich und würde Dir gerne zeigen, um was es geht“.
Karl guckt fragend.
„Nu geh mal mit“, muntert seine Mutter ihn auf. Hedwig wundert sich, dass sie hochdeutsch spricht, aber das ändert sich, sie wird lauter:
„Furts - se to,du Dösbaddel!“
Hedwig blickt ihm freundlich zu und winkt ihn zu sich heran.
Zögernd setzt er sich in Bewegung.
„Wir müssen nicht weit laufen“, sagt sie, „und nachher ist Ebbe, dann kann ich Dir alles zeigen!“
Sie gehen schweigend nebeneinander her.
Auch im Watt sagt Karl nichts, zeigt sich aber interessiert.
Er staunt, die zügig Hedwig den Inhalt des Ofenrohres in den löchrigen Eimer schüttet, den sie dabei haben. Seine Augen leuchten, als das Wasser abfließt und immerhin zwei große Aale im Eimer hinterlässt. Leider ist auch ein Krebs dabei, aber den nimmt Hedwig mit geschicktem Griff und wirft ihn in den Schlick.
Als sie zum Wurf ausholt, zuckt Karl zusammen. Hedwig wundert sich. Er wird doch keine Angst vor einem Krebs haben? Dann könnte er die Arbeit nicht machen.
Sie kommen gut voran.
Leider haben die Krebse zwei Reusen ziemlich zerrissen.
„Kaputt?“ fragt Karl – sein erstes Wort.
Hedwig nickt ernst. „Kann man aber flicken! Das müsste ich eigentlich mal selbst lernen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen. Aber wenn Du mir hilfst…“.
„Junge?“ fragt Karl. Sie kann sich keinen Reim auf seine Frage machen.
Er fragt erneut und zeigt auf ihre Haare.
Sie muss lachen.
„Hedwig“, sagt sie.
Sie arbeiten weiter.
Karl hat Probleme, die Knoten an den Schnüren der Reusen zu lösen.
Sie muss es ihm zeigen, aber seine Fingernägel sind abgebrochen oder abgebissen, so richtig kann er die Knoten nicht öffnen.
Dabei ist es so einfach.

Mit ihrer Beute und den kaputten Reusen gehen sie an Land. Eigentlich müsste Hedwig noch einmal los und die zerrissenen Maschen flicken, aber heute gönnt sie sich eine Pause.
Im Netzschuppen findet sie einen kleinen Eimer und tut einige Aale hinein. „Für ein Abendessen müsste es reichen“, sagt sie, „den Eimer kannst Du morgen wieder mitbringen. Dann werden wir noch einmal alles zusammen machen. Willst Du noch einen Tee?“
Der Junge nickt.
Er scheint wirklich sehr schüchtern zu sein.
Hedwigs Mutter ist gerade in der Küche. Sie weiß, dass Hedwig um diese Zeit ins Haus kommt und gerne einen Tee trinkt. Sie hat den Herd angeheizt; schließlich soll es auch noch Essen geben.
Irgendwie ist sie nicht zufrieden mit dem Herd heute, schimpft laut und greift sich den Schürhaken, der an der Wand hängt.
Karl schreit und flüchtet sich in die Arme von Hedwig, die ganz entsetzt ist.
Die Mutter will doch nur den Herd in Ordnung bringen, das ist doch kein Grund, sich so zu erschrecken.
Einen Moment hat ihre Mutter innegehalten, „stimmt wohl, was die Leute sagen“, denkt sie, „der Junge ist zurückgeblieben. Dann rödelt sich mit dem Schürhaken auf dem Rost herum, nachdem sie die Herdklappe geöffnet hat.
Sie ist zufrieden und hängt den Haken wieder an die Wand.
Karl sieht ihn panisch an, als wäre er ein gefährliches Tier.
Anne-Mette
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Re: Ostwind

Post 15 im Thema

Beitrag von Anne-Mette »

Er hat sich etwas beruhigt und macht sich mit seinen Aalen auf den Heimweg.
Hedwig und ihre Mutter sitzen beim Abendessen.
„Was machen unsere Kartoffeln, die müssten doch bald so weit sein?“ will Hedwig wissen.
„Zwei oder drei Wochen wird es wohl noch dauern!“
Sie müssen sich Gedanken machen, wie sie über den Herbst und über den Winter kommen.
Weitere Sommergäste sind noch nicht gekommen - und die letzten sind bereits fort.
Fast ist die Fischerei ihre einzige Einnahmequelle. Hedwig überlegt, wie oft sie wohl noch mit Willi mit dem Kutter rausfahren kann.
Der Sommer geht in ein paar Wochen dem Ende entgegen.
„Ich möchte für mich und das Kind eine eigene Kammer, auch wenn Sommergäste im Hause sind!“
Sie hat einen kühnen Plan, „auch könnten wir für die Gäste ein Zimmer anbauen, dann hätten wir höhere Einnahmen!“
„Wovon sollen wir das bezahlen?
Die Mutter hält es für eine „Schnaps-Idee“, das sagt sie ohne Umschweife.
„Ich habe bei Willi meinen Lohn stehen lassen!“
„Was, Du hast richtigen Lohn bekommen?“
Hedwig spielt ihren Trumpf aus, „Ja – und wenn wir günstig Baumaterial bekommen und uns ein paar Leute helfen, dann sollte es gelingen!“
Abends setzt Hedwig sich an den Küchentisch. Sie hat ihre alten Schulhefte hervorgeholt, die schon lange in der Abseite gelegen haben. Sie hätte nicht gedacht, dass sie die noch einmal brauchen würde.
Sie sucht eine freie Seite und zeichnet das Haus, so wie es jetzt aussieht.
Dann ergänzt sie mit keckem Schwung, wie sie sich einen Anbau vorstellt.
„Wie gut sie doch zeichnen kann!“ Die Mutter behält die Erkenntnis aber für sich, tut unbeteiligt und kümmert sich um den Abwasch.
Hedwig zeichnet auch noch einen Grundriss und vervollständigt ihn mit dem geplanten Anbau.
Eine Nachbarin kommt zu Besuch. Sie ist sicherlich neugierig, weil sie gesehen hat, dass Karl bei ihnen war. Sie bringt ein paar Kartoffeln mit, die sie in ihrer Schürze trägt, sagt „falls eure noch nicht so weit sind“ – und die Frauen sprechen über dies und über das. Viel Neues gibt es nicht im Dorf, aber noch ist Sommer und alle werden satt.
Die Nachbarin erkundigt sich nach der „öllerhaftigen Hex“.
Hedwigs Mutter flüstert fast: „die ist nicht mehr hier gewesen und wir haben sie auch nicht mehr gesehen“.
„Das muss auch so bleiben“, die Nachbarin wird ganz geheimnisvoll: „ die bringt Frauen in guter Hoffnung und deren Kindern Unglück! Viele wurden tot geboren, seit die in dem alten Haus wohnt – und manche brave Frau starb im Wochenbett!“
Die Mutter hat wohl vergessen, dass sie fast einen Pakt mit der „Hex“ geschmiedet hätte und sagt eifrig: „stimmt’s, Hedwig, Du hältst Dich von ihr fern?!“
Ja, ihre Tochter hat sogar ihre Touren durch das Watt so gelegt, dass sie nicht so weit südlich gerät, dass sie das Haus der „Hex“ und deren Schwester erblickt.
Besonders gefährlich soll es sein, wenn ein heftiger Ostwind seine schaurige Melodie in den Resten des alten eisernen Quermarkenfeuers pfeift und eine der beiden Schwestern mit gekreuzten Armen am oberen Fenster ihres Hauses steht, hinabschaut - und böse Wünsche in Richtung der Menschen schickt, die unten im Watt zugange sind.
Einer ist so tief im Schlick versunken, dass er nie wieder gefunden wurde – und eine alte Frau ist im Priel ertrunken, weil sie in Panik immer weiter hinauslief, als die Flut schon kam. Nein, mit den beiden Hexen will Hedwig nichts zu tun haben und hält sich von der südlichen Bucht fern, obwohl es dort an einer Stelle eine Süßwasserquelle gibt, die besonders viele Fische anlockt.
Der nächste Morgen bringt Wind aus dem Westen – und Regen.
Willi wird nicht hinausfahren, da ist sich Hedwig sicher.
Der Westwind drückt so viel Wasser in die Bucht, dass von Niedrigwasser kaum gesprochen werden kann.
Hedwig geht trotzdem zum Hafen, will mal schauen, ob Willi da ist. Doch er hat wohl seinen Ruhetag heute. Auf dem Weg zurück trifft sie den Bürgermeister. Den könnte sie doch gleich fragen…
Ja, sie traut sich, wünscht ihm mit fester Stimme: „Moin Herr Bürgermeister!“
„Mon mien Deern!“
Der Bürgermeister will viel wissen über Wind, Wetter und Fischerei, doch Hedwig will gern noch ihr Anliegen vorbringen: „Bürgermeister - ich möchte mal fragen, ob ich mir von der alten Flakstellung ein paar Steine holen kann!“
„Dat maak man, mien Deern!“
Der Bürgermeister muss weiter.
Die Flakstation – und was von ihr übrig ist, liegt auf einem Hügel. Sie wurde seitlich von einer Bombe getroffen, die ganze Arbeit geleistet hat. Es steht nur noch eine Wand; die anderen wurden mehr oder weniger ordentlich zerlegt. Ganze Steinhaufen liegen da neben großflächigen Teilen umgestürzter Gebäudeteile.
Hedwig muss sich eine stabile Schubkarre besorgen, um die Steine holen zu können.
Nachmittags kommt Karl wieder.
Ihn hat sie schon ganz vergessen, so ist sie mit ihren Plänen beschäftigt.
„Wir können noch nicht ins Watt“, sagte sie ihm, „das Wasser steht noch zu hoch in der Bucht, wir haben Westwind!“
Karl hat das Schulheft gesehen, das noch auf dem Tisch liegt.
„Schule?“ fragt er.
Sie blättert durch das Heft und zeigt ihm einige Seiten.
„Karl!“ ruft er auf einmal und zeigt auf ein Wort. „Nein, ‚Koch‘ steht da, aber Du hast Recht, wird auch mit ‚K‘ geschrieben“.
Sie nimmt einen Bleistift und schreibt in großen Druckbuchstaben Karl.
Er strahlt, zeigt auf das Wort und sagt noch einmal „Karl“.
Hedwigs Mutter kommt in die Küche. Der Junge schaut auf sie – dann ängstlich auf den Schürhaken, der an der Wand hängt – und dann auf Hedwig.
„Wir gehen ein wenig raus!“
Der Junge wirkt wie befreit, fragt „Reusen?“
„Nein!“
Er ist enttäuscht. Hedwig beruhigt ihn: „später!“
Sie gibt ihm ein Zeichen und führt ihn zur alten Flakstellung.
„Kaputt!“
Er ist wirklich ein Freund kurzer und knapper Worte.
Hedwig zeigt ihm ein paar Steine, denen man kaum ansieht, welchem Zweck sie schon gedient haben und was sie erlebt haben; sie sind fast unversehrt.
„Meine!“
Hedwig zeigt auf sich, „die müssen wir zum Haus bringen!“
„Alle?“
„Nein, jedenfalls nicht alle auf einmal, aber ich besorge eine Schubkarre, dann haben wir es leichter.
Karl macht keinen begeisterten Eindruck; denn er hatte sich schon darauf gefreut, wieder ins Watt zu gehen.
Ein Schauer zieht über sie hinweg.
Zuerst suchen sie Schutz hinter den Mauer- und Dachresten, die noch stehen, aber bald tropft es von dort auf sie herab.
Wenn sie nicht völlig nass werden wollen, müssen sie zum Haus oder zum Netzschuppen rennen.
Sie wählen den Netzschuppen; denn den können sie schneller erreichen – und dort hängt auch kein Schürhaken.
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