MichiWell hat geschrieben: ↑Mo 20. Jun 2022, 23:06
Auf das hier diskutierte Problem angewendet bedeutet das, dass die Menschen nicht genötigt werden sollten, unzählige Pronomen und Konjugationen auswendig lernen, eigentlich immer erst fragen zu müssen, um ja nicht das falsche zu wählen, und sich schlussendlich beim nächsten Wiedersehen hoffentlich nicht falsch zu erinnern, weil sie das Gegenüber dann in höchstem Maße beleidigt fühlt.
Mal ganz pragmatisch gesehen: So schlecht wie das binäre System für sich nicht binär einordnende Menschen geeignet ist, so intuitiv ist es doch zu erlernen. "B oder B?" das saugen wir quasi schon mit der Muttermilch auf. Das eine B verspricht Nahrung, und das andere B ... naja. Jedenfalls wird alles, was diese "Komplexität" wesentlich übersteigt, verständlicherweise nicht auf große Begeisterung stoßen, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist ..und die meisten Gehirne ziemlich faul sind. Also ist die .. für mich .. logische Folge, als Einstieg eine Lösung anzubieten, die erst einmal immer passt, sogar bei den beiden binären Mehrheits-Fällen.
Also nochmal .. Jaddy und Marie: Ich habe genug Phantasie, und kann euren Wunsch nach Vielfalt durchaus gut nachempfinden. Jedoch scheitert dieser zuverlässig an der Realität .. an der Mehrheit der Menschen, die nun mal wenig bis keine Phantasie und keinen Willen haben, sich in unsere Bedürfnisse und Wünsche hineinzuversetzen. Und da hilft es auch nicht, mit dem Fuß auszustampfen und "Ich will aber." zu schnauben, oder am Problem vorbei zu argumentieren, dass es ja durchaus Fälle von Verständnis und Entgegenkommen gibt. Damit erntet man nicht Verständnis, sondern Unwillen und Ablehnung, und wird gesamtgesellschaftlich gesehen eher länger als kürzer darauf warten müssen, dass sich in der Breite etwas bewegt.
Komplexität reduzieren, unnötige Schritte vermeiden und aufs wesentliche konzentrieren finde ich ja grundsätzlich prima. Von daher wäre ich super zufrieden, wenn alle anderen so wie ich einfach aus dem Spiel "Gender" austreten würden. Einfach komplett abschaffen. Vereinfachte Sprache, keine Fremdzuweisungen mehr, Menschen können sich nach Fähigkeiten und Interessen entfalten, und wir konzentrieren uns auf die tatsächlichen Bedarfe - insbesondere die unterschiedlichen.
Meinst Du sowas?
Nur warum hältst Du das binäre System für quasi naturgegeben? Alles was uns nach Geburt und Babyzeit als binäre Genderei im Alltag begegnet ist doch losgelöst von Biologie und eher willkürlich (bzw kultürlich).
Bei binärer Genderei sind Menschen überhaupt nicht denkfaul, sondern folgen äusserst komplexen Regeln für zwischenmenschliches Verhalten. Und das bei nur zwei Gendern. Das ist alles gelernt und antrainiert. Die Farben, die Kleidung, die Jobs und Fähigkeiten, die Sprache, welcher Umgang okay ist, usw. Und es gibt hunderte von Varianten, je nachdem in welcher zeitlichen, geografischen, sozialen, materiellen, intellektuellen Umgebung ein Mensch aufwächst.
Die Referenzen auf Studien spar ich mir diesmal. Tenor jedenfalls: Eigentlich sind sich die erwachsenen Männchen und Weibchen von Homo Sapiens in ihrem heutigen, weitgehend künstlichen Lebensraum ähnlicher als verschieden. Auch ihre benötigten Fähigkeiten sind eigentlich gleich verteilt. Biologische Unterschiede wie Länge der Extremitäten oder Muskelmasse sind für die meisten Belange irrelevant und rechtfertigen jedenfalls keine getrennten Klamotten oder verschiedene Pronomen.
Uns wurde der binäre Unfug nur so intensiv eingetrichtert und seit frühester Kindheit bis heute immer wiederholt, dass die meisten ihn für selbstverständlich halten.
Gerade weil Menschen so komplexe Regeln quasi intuitiv aufsaugen und nachahmen können, so sehr, dass sie völlig vergessen, dass sie es mal gelernt haben,
und weil sich allein in meiner Lebenszeit schon eine Menge geändert hat, bin ich zuversichtlich, dass mittelfristig eine für alle erträgliche gemeinsame Verhaltensregel entsteht.
Ob das bezogen auf Sprache nun eine einzige neutrale Form wird oder die Frage nach Pronomen so normal wie nach dem Namen wird, ist dann egal.
Letztlich bleibe ich aber dabei, dass wir viel mehr Diversität lernen müssen. Nicht nur zu Gender. Sinnlose Unterscheidungen müssen abgebaut und tatsächliche Bedürfnisse besser beachtet und selbstverständlich mitgedacht werden. Da steckt die tatsächliche "Spaltung der Gesellschaft" drin, die Dinge wie den rassistischen Seifenspender und für die Hälfte der Menscheheit ungeeignete Autositze konstruiert, und das lässt sich nicht durch normativen Druck hin zu cis-bin-mono-het-abled-weisser Kartoffeligkeit lösen.
Nunja, und ein notwendiger Teil dieser Lernbewegung ist, dass einzelne, hoffentlich viele, ab und zu laut mit dem Fuss aufstampfen und ihre Bedürfnisse einfordern.
Es ist Juni, Pride Month. Stonewall was a riot (und Comptons Cafe auch). 1970 gabs die erste CSD Demo in D, 1984 Kiesling, 1996 §175 abgeschafft, 2001 Wowereit und "eingetragene Lebenspartnerschaft" und seit 2005 ist mW immer mindestens ein Ministy im Bundeskabinett offen homosexuell. 2017 Ehe für (fast) alle.
Es geht zu langsam, aber Fuss aufstampfen wirkt. Auf jeden Fall besser als still und unsichtbar zu sein. Im Fall nichtbinär hätten wir ohne aufstampfen keine dritte Option, kein m/w/d (_ fehlt...) und nicht mal eine Diskussion wie diese.